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22 Dezember 2005

Wie verständlich Unverständliches sein kann

Ich nehme hier Bezug auf den Kommentar von mspro zur Frage der Sprachlichkeit und Verständlichkeit von Musik. Er schrieb:
Der Irrtum ist meiner Meinung nach darin begründet, dass Sprache seit jeher als primär akustische gedacht wird.
Aber dass Musik aber vielleicht doch sprachliche Eigenschaften hat, sieht man
eben an der Tatsache, dass Musik eben nicht a priori verständlich ist, oder
vielleicht überhaupt verständlich sein kann. Da braucht man gar nicht bis zu
John Cage gehen, das fängt schon bei meinen Eltern an, die meinen Musikgeschmack
nicht "verstehen". Auch indische oder orientalische Musik klingt für ungeübte
Ohren zunächst eine Ansammlung falscher Töne.
Es gibt also doch eine gewisse Idiomazität in der Musik, das kann man nicht
leugnen.
Ich finde es einen interessanten Gedanken, die Sprachlichkeit gerade darin zu begründen, dass es zunächst nicht verständlich ist -- aber so würde ich es sicher nicht ausdrücken. Das scheint doch das Unverständliche ein bisschen hoch zu hängen. Eher weiter kommt man vielleicht mit der Beobachtung, dass Musik -- wie Sprache -- zuweilen den Eindruck erweckt, man habe sie verstanden. Diesen Eindruck kann man behalten, er wird durch das Weiterhören nicht beschädigt, selbst wenn man sich in Wirklichkeit darin irrt, dass man die Musik versteht.
Als Beleg eine Beobachtung des ehemaligen Göttinger Musikethnologen Brandtl: Er war mal bei einem Konzert einer afrikanischen Jazzband in einem Frankfurter (?) Musikkeller. Die Musik der Schwarzafrikaner war so swingend, dass das Publikum anfing, dazu zu tanzen. Mitten im Stück brachen die Spieler jedoch ab und baten darum, nicht mehr zu tanzen. Der Anblick der Tänzer würde sie stören, weil die Tänzer falsch tanzten. Die Erklärung: Europäische Ohren nehmen die tiefen Töne als Maß für den Rhythmus. Die Afrikaner richteten sich hingegen nach dem Schlagzeug, dass in mittlerer Höhe gespielt wurde. Die Tänzer betonten also die falsche "Eins" im Takt. Es wäre ihnen nie aufgefallen...

Bin nun zweieinhalb Wochen still. Gutes neues Jahr!

21 Dezember 2005

Ethik für Jugendliche aufbereitet

Wie die Bundeszentrale für Politische Bildung das Thema Ethik Jugendlichen nahebringt, kann man in der neuesten Ausgabe des Magazins Fluter sehen.

20 Dezember 2005

Neue philosophische Datenbank online

Seit dem 1.12. sind die OLC SSG Philosophie online unter <http://gso.gbv.de/DB=2.140/>. Die Datenbank ist zugänglich in Deutschland über die Uninetze und andere freigeschaltete wissenschaftliche Institutionen, also leider nicht von zu Hause aus. Ausgewertet werden per Scan der Inhaltsverzeichnisse zur Zeit 185 Zeitschriften, und zwar seit 1993. Wer wissen möchte, welche Zeitschriften das sind, bekommt eine Auflistung über diesen Link.
Was kann diese Datenbank im Vergleich zum Philosopher's Index? Sie ist kleiner und erschließt die Beiträge weniger gut, da nur durch Scans. Aber sie wird in Zukunft (2006) erweitert werden um ein vermehrtes Angebot deutschsprachiger Zeitschriften aus dem Bestand der UB Erlangen. Damit wird die Datenbank dann den deutschprachigen Raum hoffentlich besser abdecken als der PI!

19 Dezember 2005

Folter und Geheimdienste

Soll der deutsche Geheimdienst Erkenntnisse verwerten, die womöglich unter Folter erpresst worden sind? Peter Müller "schließt nicht aus", dass der Geheimdienst solche Informationen zur Gefahrenabwehr verwendet, auch wenn sie vor Gericht keinen Bestand hätten, teilt Spiegel online mit. Das klingt doch ganz pragmatisch, und es bedeutet im Klartext: Ich würde selbst nie foltern, und wenn andere das tun, dann ist das schlimm. Aber man wäre ja blöd, wenn man nicht die Erkenntnisse nutzen würde, die dabei herausspringen. Und da ist was wahres dran: man wäre wirklich blöd. Trotzdem ist zu fragen, ob diese Lösung nicht moralischer Faulheit entspringt. Wieviel ist das Bekenntnis gegen Folter wert, wenn man genau weiß, dass man diese bloß befreundeten Staaten zu überlassen braucht?
Ich spüre ein Unbehagen, wenn der (unser) Staat mit Terroristen und Fanatikern umgeht. Das hat damit zu tun, dass der Staat ihnen immer unterlegen ist: Die setzen ihr Leben ein. Womit kann man ihnen drohen? Wie kann man sie erreichen? Haben wir etwas vergleichbares dagegenzusetzen? Vermutlich nicht -- und womöglich liegt gerade darin die Überlegenheit unserer Gesellschaftsform.
Asymmetrie: Die sind bereit zu sterben, um ihr Ziel zu erreichen, die Vertreter des Staates nicht. Manche Staaten stellen so etwas wie Symmetrie wieder her, indem sie zumindest bereit sind zu töten -- oder was ihnen sonst so einfällt. Aber damit werden sie dem ähnlicher, was sie bekämpfen.
Und eine weitere Asymmetrie: Terroristen und Fanatiker sind immun gegen Irrtum in ihrem Tun. Wir hingegen irren. Deswegen gibt es ja ein langwieriges, regelgeleitetes System, um die Wahrheit herauszufinden z.B. in Gerichtsverhandlungen. Schon darum sollten wir die Regeln nicht aufgeben.

13 Dezember 2005

Stephen Davies über die Philosophie der Musik

Ist John Cages 4'33'' Musik? Was bedeutet es, wenn eine Aufführung "authentisch" ist? Wie bewerten wir Musik, und wie sollten wir? Stephen Davies geht in Themes in the Philosophy of Music dieser und anderen Fragen nach. Die Frage nach Cages 4 Minuten und 33 Sekunden vorgeschriebener Stille leitet den Essayband ein. Davies argumentiert dafür, dass die Provokation von Cage sehr wohl unseren Musikbegriff erweitert -- aber nicht in die Richtung, die Cage intendierte. Sorgfältig und kenntnisreich argumentiert. Interessant finde ich auch das dritte Kapitel mit Essays zur Frage der Sprachlichkeit und zur Ausdrucksfähigkeit von Musik.

Stephen Davies hat leider einen Namen wie viele andere. Netterweise packte Google ihn ganz nach oben. Ansonsten hilft die Information, dass er in Neuseeland an der University of Auckland lehrt. -- Wer möchte, kann über Ingenta connect eine Rezension von Marc DeBellis lesen: für nur 31 Dollar! Das Buch selbst kostet im jetzt erschienenen PB 18 Pfund...

11 Dezember 2005

Mach ein Bild! Philosophenporträts für lau

Wie Descartes aussieht, das weiß man, oder wie Kant aussieht. Manche Bilder sind längst zur Ikone geworden, die schon als Bestandteil eines Logos taugen, bei den verschiedenen philosophischen Fakultäten, bei Online-Zeitschriften, bei sonstigen philosophischen Foren.
Aber wie sehen die weniger bekannten aus? Was ist mit d'Alembert, Giordano Bruno, mit Ritschl? Der Thoemmes-Verlag bietet nicht nur eine recht umfangreiche Galerie in Bildschirmtauglicher Auflösung, sondern auch die Möglichkeit zur privaten Nutzung der Bilder mit höherer Auflösung. Manches nette Fundstück ist darunter auch bei jenen Philosophen, deren zwei oder drei bekannte Porträts man praktisch auf jedem Buch über sie findet, unter anderem diese gruselige Porträtzeichnung von Wittgenstein.

10 Dezember 2005

Skeptizismus lebt!

Theorien wie der Kontextualismus (hier Willascheks Zusammenfassung für das Kontextualismus-Sonderheft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie) gehen mit der skeptischen Herausforderung um, indem sie ihr einen Sonderstatus zuweisen. Das klappt umso besser, je weiter weg von der Alltagserfahrung sich die skeptische Frage positioniert, als Dämon oder Gehirn im Tank etwa. Umso interessanter muss daher ein Skeptizismus erscheinen, der das schlichte Ausweichen nicht zulässt. Bryan Frances zeigt in Scepticism comes alive (Oxford : Clarendon, 2005), wie das aussehen könnte. Das skeptische Argument, in der Fassung seines Vorworts:
In order to know P, one must be able to rule out some nonP possibilities. For instance, in order to know that the tree is a fir, one has to rule out the possibility that it's a spruce or a hemlock. At least, one has to rule out those possibilities provided they are real, scientifically respectable, 'live' hypotheses; one is aware that they have such respect; and one si perfectly aware that those hypotheses conflict with one's belief that the tree is a fir. For instance, you came across the tree while taking a stroll through a forest with a tree expert. You said the tree was a fir, but she said that it's quite hard to tell from this vantage-point because spruces and hemlocks look the same and there are lots of them around here. Those nonP possibilities are 'relevant alternatives', as it is often said. Perhaps the brain-in-a-vat possibility doesn't need to be ruled out; but the spruce and hemlock possibilities do need to be ruled out. Assuming I can't rule out the spruce possibility, I don't know that the tree is a fir -- even if the tree is a fir. At least, I don't know it's a fir tree once I'm aware of the live status of the spruce and hemlock possibilities.
But now here's the kicker: there are several real, scientifically respectable, 'live' hypotheses that can be used in the very same argument template as in the previous paragraph.
Was für Hypothesen könnten das sein? Hier eine Online-Zusammenfassung als Nous-Artikel aus Frances' eigener Feder.

06 Dezember 2005

Olaf Müller über das Gehirn im Tank -- eine Rezension (2. Teil)

Zum ersten Teil.

Weitere skeptische Ansätze und Gegenargumente (zum Kontextualismus z.B. 1, S. 63-72) werden gestreift. Kenner der Materie mögen sich hier wie zuweilen bei der Ausführlichkeit der Argumentation langweilen, können aber dank des vorbildlichen Inhaltsverzeichnisses und des übersichtlichen Gedankenganges leicht Abschnitte überspringen und dort einsteigen, wo es ihnen wieder interessant erscheint.

III Die Ziele von Müllers Studie (2): Die offene Frage, wenn der Skeptizismus widerlegt ist


Der zweite Band ist aus meiner Sicht der eigentlich reizvolle Teil der Untersuchung. Hier geht es Müller um das Unbehagen, das Putnams Beweis zurücklässt, weil er wörtlich von einem Gehirn im Tank wiederholt werden könnte, ohne dass die Wahrheit der Konklusion gefährdet wäre (2, S. 6). Müller diagnostiziert dieses Unbehagen als ein metaphysisches: Es bleibt, obwohl er den Skeptizismus mit Putnam widerlegt hat (sofern der Externalismus wahr ist). Um Erkenntnistheorie kann es dabei nicht gehen: Das Wissen eines Gehirns im Tank von seiner Welt ist genauso sicher wie unseres, das liegt an der vollen Disquotionalität seiner wie unserer Sprache (1, S. 78ff.). (Ähnlich Douglas C. Long: The self-defeating character of skepticism. In: Philosophy and phenomenological research 52 (1992), S. 67-84; David Chalmers, The Matrix as metaphysics (online, auch in: Christopher Grau (Hg.): Philosophers explore ‘The Matrix’. Cambridge: CUP 2005.) Das Gehirn im Tank hat einfach einen anderen metaphysischen Rahmen (2, S. 43).
Vielmehr geht es darum, ob bzw. wie wir über – mit Wittgenstein zu reden – ‘die Grenzen unserer Welt’ spekulieren können. Dafür bedient Müller sich eines einfachen Kunstgriffs. Statt „unsere“ Situation zu betrachten, analysiert er die eines Gehirns im Tank und dessen Versuche, seine Situation – die sich von uns aus, von außen, leicht fassen lässt – sprachlich zu beschreiben (2, S. 45 f.). Das metaphysische Unterfangen läuft also darauf hinaus, einem Gehirn im Tank die sprachlichen Mittel in die Hand zu geben, über seine eigene Situation etwas Weiterführendes zu sagen. Der Satz „Ich bin kein Gehirn im Tank“ erfüllt diese Forderung nicht, weil er gemäß der externalistischen Analyse trivialerweise wahr ist. Wie müsste ein weiterführender Satz lauten? Welche Ausdrucksmittel sind dafür nötig? Von außen können wir beurteilen, ob diese Mittel ihren Zweck erfüllen.

IV Was ist ‘Semantische Stabilität’?

Der Kern des Müllerschen Instrumentariums besteht im Begriff der „Semantischen Stabilität“, der entfaltet wird anhand einer Ebenen-Analyse: Seien wir die erste Ebene, Gehirne in Tanks in unserer Welt die zweite. Kommen in deren simulierter Welt wiederum Gehirne in Tanks vor, ist dies eine dritte, undsofort. Semantisch stabil ist ein Begriff, der in jeder dieser Ebenen dieselbe Bedeutung hat. Nicht stabile Wörter sind solche, die übersetzt werden müssen. Beispiel: Im Tankdeutschen bezeichnet das Wort „Tiger“ die Repräsentation im Supercomputer; im Deutschen bezeichnet das Wort „Tiger“ die Tiger. „Tiger“ ist nicht semantisch stabil. Zur Kennzeichnung wird das tankdeutsche Wort „Tiger“ ins Deutsche mit „Bit-Tiger“ übersetzt. Man sieht auf den ersten Blick, dass Bezeichnungen für materielle Gegenstände wie „Tiger“ im Tankdeutschen allesamt nicht semantisch stabil sind (2, S. 134ff.). Ebenso leicht ist zu sehen, dass logische Operatoren im Tankdeutschen genauso funktionieren wie im deutschen; es ist also unnötig, zwischen „und“ und „bit-und“ zu unterscheiden (2, S. 78ff.). Damit aber das Projekt „Ausdruck des metaphysischen Zweifels“ Erfolg haben kann, müssen auch informative Wörter semantisch stabil gemacht werden. Als geeignete identifiziert Müller schließlich die eingeführte künstliche Vorsilbe „bit-“ und ihr Gegenstück „über-“ (2, S. 196ff.). „Bit-“ bezieht sich immer auf die nächsttiefere Ebene, abhängig vom Ort des Sprechers, und wirkt demnach wie ein indexikalischer Ausdruck. „Vielleicht gibt es Bit-Katzen“ bedeutet also: „Vielleicht gibt es Katzen-Simulationen (im Simulationsprogramm eines Gehirns im Tank).“ Das Gegenstück „Über-“ erlaubt den umgekehrten Weg: Ein Gehirn im Tank kann mit „Vielleicht gibt es Über-Katzen“ auf die Welt außerhalb seines Computers -- unsere Welt -- referieren und über die Existenz von Katzen darin spekulieren. Dass es keine Möglichkeit hat, je die Frage „Gibt es Über-Katzen?“ zu entscheiden, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls ist damit das Ziel von Müllers Gedankengang erreicht, namentlich, das sprachliche Instrumentarium für den metaphysischen Zweifel zu entwickeln.

V Schneller zum (anderen) Ziel – ist der Externalismus wahr?

Nach der Lektüre der rund 200 Seiten, die Müller darauf verwendet, fragt man sich, ob das Ziel nicht auch schneller und weniger aufwendig hätte erreicht werden können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dem so ist, weil mir Müller die Pointe des diagnostizierten metaphysischen Unbehagens zu verkennen scheint. Putnams Beweis zeigt nicht, dass wir keine Gehirne im Tank sind, sondern dass wir nicht darüber reden können – sofern der Externalismus wahr ist. Das Unbehagen rührt aus dem Missverhältnis zwischen dem anscheinend einwandfreien Beweis und der Tatsache, dass wir die Geschichte vom Gehirn im Tank gut genug verstehen, um zu wissen, was damit gemeint ist. Das trifft auch Müllers Untersuchung. Hätte Putnam recht, worum geht es dann in seinem Buch? Dass wir die Ausgangsfrage verstehen, zeigt, dass wir wissen, was ein Gehirn im Tank ist, und darüber reden können, ganz ohne „Bit-Gehirne“ und „Über-Katzen“. Entsprechend verstehen wir die Möglichkeit, ein Gehirn im Tank zu sein (ich habe dieses Argument ausführlicher dargestellt in: Joachim Eberhardt: Gehirne in Tanks : warum die skeptische Frage offen bleibt. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 58 (2004), S. 559-571).
Warum ist das so? Es liegt daran, dass das Gedankenexperiment selbst bereits zwei Ebenen umfasst: die des Gehirns im Tank und die des Wissenschaftlers, der das Gehirn versorgt. Müllers Untersuchung der Möglichkeit, eine sprachliche Beziehung zwischen diesen beiden Ebenen herzustellen, beschränkt sich auf die Innenperspektive: auf die Sicht des Gehirns im Tank und auf die Sicht des Wissenschaftlers. Dafür braucht er die Vorsilben „Bit-“ und „Über-“. Aber wir blicken im Gedankenexperiment auf beide von außen. Unsere Sprache enthält das Instrumentarium schon, die Beziehung zwischen beiden zu beschreiben, und dabei kommt man ohne den Begriff der „semantischen Stabilität“ aus. Das einzige, was man benötigt, ist die Analogie. Müller streift Analogien kurz in seinen Überlegungen (2, S. 123 ff.), ohne zu bemerken, dass sie, gewissermaßen, eine Abkürzung zu seinem Ziel bieten. Müllers Umweg hat mit dem Externalismus zu tun. Er mag eine leistungsfähige Theorie der Bedeutung sein; aber er allein erklärt längst nicht alle Typen von Sprachverwendung. Zum Beispiel sind Metaphern und Analogien ebenfalls Möglichkeiten, über die Welt zu reden und sich auf sie zu beziehen. Darum liegt ein Fehler in Putnams Beweis (in der Fassung von Wright in der Verbesserung von Müller) darin, sich mit dem Externalismus zu begnügen. Deutlich ist das an der vereinfachenden Gegenüberstellung von Externalismus auf der einen, „magischer“ Theorie des Bezeichnens auf der anderen Seite (1, S. 109 u.ö.). Sieht man die Sache so, gibt es keine vernünftige Alternative zum Externalismus. Aber man sollte sie nicht so sehen. Hier hätte ich gern ebenfalls Müllers klares Denken und seine geduldig-gründliche Argumentation am Werk erlebt.

VI Fazit

Das Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank scheint vom Skeptizismus zu handeln. In Wirklichkeit handelt es von unserer metaphysischen Situation, meint Müller und lenkt damit unsere Aufmerksamkeit auf einen insbesondere in der analytischen Philosophie lange vernachlässigten Bereich (diese Metaphysik hat einen deutlich weiteren Umfang als P. F. Strawsons Projekt einer „deskriptiven Metaphysik“). Auch wenn mir seine Schlussfolgerung unvollständig zu sein scheint, ist das ein Gewinn.

Wie sich Religion und Analytische Philosophie vertragen

Dass man gleichzeitig an Gott glauben und Philosoph sein kann, war früher nix besonderes -- man denke nur an die philosophischen Systeme, die Gott voraussetzen, wie die von Descartes, Leibniz oder Bischof Berkeley. Heutzutage ist das vielleicht nicht mehr ganz so selbstverständlich, und so tendieren einige, die ich kenne, dazu, per Autorität zu begründen: Wenn z.B. für Hilary Putnam Glaube und Philosophie vereinbar sind (vgl. diese Rezension von ihm, 4.letzter Absatz), dann doch für mich (kleines philosophisches Licht) erst recht.
Wer nicht ganz so viel auf die Autorität und mehr aufs Selberdenken geben möchte, findet ein paar Anregungen dazu in dem neuen Sammelband Faith and philosophical analysis : the impact of analytical philosophy on the philosophy of religion, hg. von Harriet A. Harris und Christopher J. Insole (hier eine Rezension von Benjamin Murphy im Online-Journal für Religionsphilosophie, Ars disputandi).

Spüren Tiere Schmerzen? Haben sie Bewusstsein?

Seit 2002 hat der Tierschutz in Deutschland Verfassungsrang (Art. 20a GG). Wer einem Tier "ohne vernünftigen Grund" Schmerzen zufügt, macht sich strafbar (Tierschutzgesetz). Für den Philosophen entstehen zwei Fragen: 1. Was ist ein "vernünftiger Grund"? 2. Spüren Tiere Schmerzen bzw. in welcher Weise spüren Tiere Schmerzen? Für manche ist die zweite Frage schon entschieden. Aber so einfach ist sie gar nicht zu beantworten -- zumal für Philosophen, die schon mit dem menschlichen Fremdpsychischen Probleme haben...
Wittgenstein hat, denke ich, viele Einsichten zur Sprache gebracht, die uns sonst unausgesprochen leiten. So etwa seine Rede vom "Schmerzbenehmen" (1, 2), an dem wir das erkennen können, was im andern vorgeht. Auch wer zugibt, dass Tiere Schmerzbenehmen zeigen, kann noch im Zweifel darüber sein, ob sie den Schmerz so erleben wie wir: ob sie das nötige Bewusstsein haben. Thorsten Galert geht in Vom Schmerz der Tiere : Grundlagenprobleme der Erforschung tierischen Bewusstseins (Paderborn: Mentis, 2005) diesen Fragen nach: eine interessante Untersuchung auch darum, weil sie sich dem Problem des Fremdpsychischen von ungewöhnlicher Seite nähert.

01 Dezember 2005

Olaf Müller über das Gehirn im Tank -- eine Rezension (1. Teil)

Olaf Müller: Wirklichkeit ohne Illusionen. Paderborn: Mentis 2003.
Band 1: Hilary Putnam und der Abschied vom Skeptizismus oder Warum die Welt keine Computersimulation sein kann. 240 S. Kart. EUR (D) 36,-.
ISBN 3-89785-280-1.

Band 2: Metaphysik und semantische Stabilität oder Was es heisst, nach höheren Wirklichkeiten zu fragen. 278 S.. Kart. EUR (D) 36,-.
ISBN 3-89785-281-0.

I Gedankenexperimente sind attraktiv

Gedankenexperimente haben Konjunktur in der Philosophie. Das ist abzulesen an einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen in jüngerer Zeit.
Auch in den Vorlesungsverzeichnissen ist das Thema, wie eine Google-Recherche leicht zeigt, vermehrt präsent. Möglicherweise liegt das daran, dass sich Gedankenexperimente für die Propädeutik, die Einführung in das philosophische Denken, gut eignen.
Eines der prominentesten Gedankenexperimente in diesem Sinne ist das vom ‘Gehirn im Tank’. Es wurde erfunden, um den Skeptizismus in ein modernes Gewand zu kleiden, ist aber erst nachgerade prominent geworden durch Hilary Putnams Versuch der Widerlegung (Hilary Putnam: Reason, truth and history. Cambridge: CUP, 1981, Kap. 1).
Putnams Argument beruhte auf der Entdeckung, dass der semantische oder Content-Externalismus, den er zuerst mit dem Twin-Earth-Gedankenexperiment in The meaning of meaning (1975) vortrug, erkenntnistheoretische Konsequenzen hat. Die Argumentation ist nicht ganz einfach, zumal Putnam seinen Kerngedanken etwas versteckte, und hat zu einer wahren Literaturflut – zustimmend wie ablehnend – geführt. Olaf L. Müller gelingt es im ersten Teil seiner zweiteiligen Habilitationsschrift Wirklichkeit ohne Illusionen, hier Klarheit zu schaffen, indem er das Argument rekonstruiert und seine Lücken abdichtet. Im zweiten Teil unternimmt er es, dem metaphysischen Unbehagen auf den Grund zu gehen, das Putnams Beweis zurücklässt.

II Die Ziele von Müllers Studie (1): Putnams Beweis wird wasserdicht

Müller hat in Göttingen und Los Angeles Philosophie und Mathematik studiert und dann unter anderem in Göttingen, Harvard und München unterrichtet; seit 2003 lehrt er Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität in Berlin. Bereits in seiner Dissertation hatte er sich mit dem Skeptizismus beschäftigt, und zwar in der Gestalt von Quines semantischer Formulierung (Olaf Müller: Synonymie und Analytizität : zwei sinnvolle Begriffe. Paderborn: Schöningh 1998).
Sein Interesse am Gehirn im Tank und Putnams Gegenargument geht auf eine persönliche Begegnung beim 1. Göttinger philosophischen Kolloquium 1994 zurück. Auf zwei Ziele arbeitet Müller hin:
1. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus lässt sich nicht halten.
2. Das Unbehagen, das zurückbleibt, wenn der Skeptizismus widerlegt ist, ist ein metaphysisches Unbehagen, welches die Philosophie ernst nehmen und dem sie zum Ausdruck verhelfen muss.
Im Groben sind diesen beiden Zielen die beiden Bände der Untersuchung gewidmet. Doch im einzelnen: Im ersten Band beschäftigt sich Müller vor allem mit Putnams Gegenargument gegen den Skeptizismus (in der Fassung von Crispin Wright, 1,75). Bekanntermaßen läuft die Argumentation etwa so:
A. In meiner Sprache bezeichnet das Wort „Tiger“ die Tiger.
B. In der Sprache eines Gehirns im Tank bezeichnet das Wort „Tiger“ nicht die Tiger.
C. Also unterscheidet sich meine Sprache von der eines Gehirns im Tank.
D. Also bin ich kein Gehirn im Tank.
Müllers Aufmerksamkeit gilt zwei Lücken dieses Beweises.
1. Der Beweis beruht darauf, dass sich „meine“ Sprache von der eines Gehirns im Tank unterscheidet. Die externalistische Begründung dafür: die Sprachen unterscheiden sich, weil das gleiche Wort sich auf Unterschiedliches bezieht. Doch das allein, ist einzuwenden, ist kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal; es gilt ja z.B. für indexikalische Ausdrücke auch (1, S. 147). Immerhin: der Beweis braucht den Rekurs auf verschiedene Sprachen gar nicht – die Unterscheidung z.B. der Äußerungskontexte genügt. Befindet man sich nicht im gleichen Kontext wie ein Gehirn im Tank, wenn man „Tiger“ sagt (egal was man damit sagt), dann ist man auch kein Gehirn im Tank (1, S. 158).
2. Der Beweis setzt in den Prämissen A und B voraus, dass es Tiger gibt. Statt Tiger verwende man das Wort „Gehirn“ und beginne mit der Fallunterscheidung: Entweder gibt es Gehirne oder nicht. Falls es Gehirne gibt, gilt der Beweis, falls es keine gibt, kann man auch kein Gehirn im Tank sein (1, S. 181). Damit ist Putnams Beweis „wasserdicht“, sofern der Externalismus wahr ist – eine für Müller nicht allzugroße Hypothek. Sein Plädoyer für den Externalismus als Theorie der Bedeutung führt zugleich in dessen Konsequenzen ein (Hilary Putnam, Tyler Burge u.a., 1, S. 106ff.)

Exkurs: Der semantische Externalismus ist eine Theorie, die durch Gedankenexperimente bekannt geworden ist – neben Hilary Putnams Twin Earth (s.o.) vor allem durch Tyler Burges Arthritis-Gedankenexperiment in Individualism and the mental (1979). Vgl. dazu Mark Rowland: Externalism : putting mind and world back together again. Chesham: Acumen 2003, S. 97-122. — Müllers Einführung ist auf die Kernelemente beschränkt; er streift nur am Rande den Zusammenhang von Erster Person und Externalismus (2, S. 5 f.), vgl. dazu die gesammelten Aufsätze in: Susana Nuccetelli (Hg.): New essays on semantic externalism and self-knowledge. Cambridge, Mass.: MIT Press 2003. Ende Exkurs.

Weiter zu Teil 2.

28 November 2005

Entspannt die "Kritik der reinen Vernunft" lesen

ist vermutlich eine Kunst. Wie man sie lernt, zeigt Jay F. Rosenberg in seinem neuen Buch Accessing Kant : a relaxed introduction to the Critique of pure reason. Ich habe in die Einleitung reingelesen, die mir sehr sympathisch erscheint. Rosenberg möchte nicht einfach nur ein weiteres Buch über die KrV schreiben; aber auch nicht bloß fragen, was Kant uns heute noch zu sagen hat. Letzteres nennt er den "dionysischen" im Unterschied zum apollinischen Zugang der Gelehrten. Rosenberg versucht sich an einer Art dionysischem Kommentar. Ich lese ihn gern, seit ich seine exzellente Einführung in das Philosophieren kenne.
Nützlich für den entspannten Umgang mit Kant ist vielleicht auch der Umweg übers Englische. Michael Frede sagte einmal während eines Symposiums in Göttingen über Kant, der sei ihm immer zu schwer gewesen, bis er ihn auf englisch gelesen habe: "Dann war alles ganz einfach".

Hilft womöglich auch bei Hegel?

Newtons Alchimie

Dass Neal Stephensons Barock-Zyklus eine gute Lektüre ist, das habe ich schon behauptet. Stephenson erläutert in einem Interview (zu lesen auf seiner Homepage), wie er erstaunt war herauszufinden, dass Isaac Newton einen Großteil seines Lebens als Chef der englischen Münze verbracht hat. Was wollte der geniale Wissenschaftler dort? Nach Stephenson -- ich habe keine Ahnung, ob das seine persönliche Theorie oder durch Quellen gestützt ist -- war Newton auf der Suche nach dem sagenhaften Gold König Salomons. Als Chef der Münze saß er an der Quelle: dahin, wo das Geld hinkommt, wenn es nach England will.
Das Gold König Salomons ist schwerer als normales Gold -- es hat damit göttliche Eigenschaften. Stephenson malt mit dieser Episode Newtons bekannte alchimistische Interessen aus. Und die kann man jetzt auch nachvollziehen auf einer schönen Webseite der Universität von Indiana.

27 November 2005

H + M: Handeln und Moral

Theoretische Vernunft beschäftigt sich mit Meinungen, praktische Vernunft mit Handlungen. Könnte die praktische Vernunft den Startpunkt für die Moraltheorie abgeben? Elijah Millgram (lehrt in Utah) meint "ja" in seiner Aufsatzsammlung Ethics done right. Was wäre die Alternative? "Reflective equilibrium" sei bislang "the method of choice" für das moralische Nachdenken bei Philosophen gewesen. Praktische Vernunft ist näher an den Handlungen dran, indem sie sich z.B. der Frage widmet, welche Gesichtspunkte bei einer Entscheidung beachtet werden müssen, welche Eigenschaften einer Situation moralisch relevant sind usw.
Hhm; ist nicht das Bewusstsein von Werten eine Voraussetzung für die Erkenntnis, welche Eigenschaften einer Situation relevant sind? Muss man wohl Millgram lesen, um zu erfahren, wie er sich das denkt.

26 November 2005

1805: Fichte in Erlangen

Der Wissenschaftslehren-Fichte hat auch in Erlangen gelehrt -- und weil das grad 200 Jahre her ist, er lehrte nur einen Sommer, feiert das philosophische Institut mit einer Reihe von Vorträgen Anfang Dezember. Kommet zuhauf! Information hier.

23 November 2005

Argumentieren, Lachen, Hören

Drei kurze Hinweise auf interessante Bücher:
Maurice A. Finocchiaro legt mit Arguments about arguments (Cambridge 2005) eine Sammlung seiner Arbeiten zur philosophischen Argumentation und Logik vor; sie enthält sowohl historische als auch systematische Aufsätze.

Jure Gantar schreibt über The ethics of laughter (Untertitel von The Pleasure of fools). Gibt es ein Lachen, das moralisch vertretbar ist, weil es nicht seinen Gegenstand verächtlich macht? Lässt sich das universell vertreten (in einer Welt mit pluralen Werten)?

Manuel Schölles hat weiter unten im Kommentar auf das neue Angebot Federlese (http://www.federlese.com/) hingewiesen. Ein Philosophie-Texte-Podcast, das vor kurzem mit Nietzsches Nur Narr, nur Dichter begonnen hat -- und dem ich Ausdauer wünsche. Wunderbares Projekt! In diesem Zusammenhang, für alle, die mehr über den Nietzsche-Text erfahren wollen: benutzen Sie die umfassende Online-Nietzsche-Bibliographie der Stiftung Weimarer Klassik, die ja auch das Nietzsche-Archiv betreut. Und weitergehend: Hyper-Nietzsche.

22 November 2005

Was läuft philosophisch in anderen europäischen Ländern?

Gestern habe ich auf das Buch eines spanischen Philosophen hingewiesen. Sicher hätte man es hier nicht wahrgenommen oder der Übersetzung für wert befunden, wenn es kein Bestseller gewesen wäre. Und das ist doch schade, denn aus dem philosophischen Spanien dringt nicht viel zu uns, genausowenig wie aus Italien -- von Agamben und Eco mal abgesehen --, aus den Niederlanden und Belgien, aus den skandinavischen Ländern, von Osteuropa ganz zu schweigen. So ist man häufig darauf angewiesen: entweder die Sprache zu sprechen, oder sich mit dem zu begnügen, was auf englisch erscheint. Aber selbst wenn man das tut, bleibt noch die Schwierigkeit, auf entsprechende Veröffentlichungen aufmerksam zu werden.

Gerade ist auf meinem Schreibtisch ein englischer Proceedings-Band einer Konferenz in Genua 2001, erschienen 2004: Logic and metaphysics, hg. von Michele Marsonet und Margherita Benzi. Darin kann man erahnen, dass es eine kleine Szene analytischer Philosophie in Italien gibt, und was sie beschäftigt. Daneben enthält das Bändchen einen bislang anderswo nicht veröffentlichten Aufsatz von Michael Dummett, Relative truth sowie Aufsätze von Anthony Grayling und Michael Devitt.

Aus Italien kommen Evandro Agazzi, Paolo Parrini, Ettore Casari und Michele Marsonet zu Wort. Parrini z.B. widmet sich der Frage, ob man gut fünfzig Jahre nach Quines Attacke auf die analytisch-synthetisch-Unterscheidung wirklich darauf verzichten kann. Agazzi geht es um den Zusammenhang von Logik und Metaphysik; Casari untersucht die Logik von ontologischen Relationen; Marsonet versucht einen pragmatischen Blickwinkel auf das Thema zu eröffnen.

Parrini verweist übrigens gleich anfangs auf einen Vortrag eines polnischen Logikers, der über 60 verschiedene Bedeutungen von "analytisch" unterscheidet: J. Wolenski, Kinds of analytical sentences, vorgetragen in Pittsburgh 2000. Vielleicht gibt es ja so viele Bedeutungen auf polnisch?

21 November 2005

Worüber man sich in Spanien aufregt: Ist Gott ein kulturelles Phänomen?

Der spanische Philosoph José Antonio Marina (hier ein spanisches Interview mit Bild), einer der bekannteren, hat einen Beststeller geschrieben, Das Gottesgutachten (hier Inhaltsverzeichnis). Jetzt kann man auf deutsch nachlesen, was die "spanischsprachigen Länder", wie es in der Verlagsinformation heißt, daran aufregt und dem Buch mindestens die fünfte Auflage eingebracht hat. Im Vorwort zur fünften Auflage, das der deutschen Übersetzung beigegeben ist, erläutert Marina, was seine Kritiker aufgeregt hat -- natürlich haben sie ihn alle missverstanden. Es sind vier Punkte:
1. Er schreibt "von außerhalb des religiösen Phänomens", wie ein "Außerirdischer". Dieses auch in den Kritiken zitierte Wort ist für Philosophen leichter zu verstehen mit Marinas Verweis auf seinen "Meister" Husserl: dass man alle Glaubensüberzeugungen "in Parenthese" zu setzen habe.
2. Marina trennt zwischen religiöser oder übernatürlicher Erfahrung und natürlicher Erfahrung. Diese beiden Bereiche hätten unterschiedliche Modi der Verifikation (oder unterschiedliche Wahrheitsbegriffe). Mit andern Worten: die Schwierigkeit besteht darin, die Brücke zu schlagen. Denn manche Aussagen können "aufgrund ihres besonderen Charakters" das "Stadium der privaten Verifikation nicht verlassen". Raten Sie mal, wo hinein die Religion gehört...
3. Religion ist ein kulturelles Phänomen, Gott ein "kulturelles Objekt". Wer in Spanien geboren wird, wird höchstwahrscheinlich Katholik, in Saudi-Arabien ebenso höchstwahrscheinlich Moslem. Die Kultur verleiht den religiösen Erfahrungen ihre Bedeutung, so Marina.
4. "Die Religionen müssten sich universalen ethischen Kriterien unterwerfen", die Ethik sei ein "muttermörderischer Abkömmling" der Religion.

Dass diese Thesen bei uns für solche Aufregung sorgen, glaube ich eigentlich nicht. Was die letzte angeht, so habe ich das doch in einem Aufsatz aus den fünfziger oder sechziger Jahren schon irgendwo gelesen, Philippa Foot? Elizabeth Anscombe? Ist jedenfalls die logische Folge aus Eutyphrons Dilemma.

20 November 2005

Performativer Selbstwiderspruch: Wie Sony kopiert

Manches Handeln drückt deutlich aus, welche Werte der Handelnde vertritt: Sony BMG (Bertelsmann Music Group) hat seinen Musik-CDs ein Progrämmle verpasst, welches verhindern sollte, dass Käufer von CDs diese auf ihrem Rechner kopieren (und das sich vom Nutzer unbemerkt auf die Festplatte schreibt). Damit werden CDs von etwas, das man gekauft hat, zu etwas, woran man bloß Nutzungsrechte erwirbt -- eine fragwürdige Veränderung, finde ich. Fein, dass sich die Musikdiktatoren nun selbst in die Nesseln gesetzt haben (Bericht des SPIEGEL): Offenbar enthält das Programm Code aus dem Open Source-Bereich, nämlich des MP3-Encoders Lame. Und dafür gelten ebenfalls Lizenzbestimmungen.

Dieses Verhalten fordert natürlich zur Reflexion heraus. Von Nicolai Hartmann wird erzählt, dass er in seinem privaten Verhalten keineswegs den hohen Maßstäben genügte, die er in seiner materialen Wertethik verkündet hatte. ""Haben Sie schon mal gesehen, dass ein Wegweiser den Weg geht, den er weist?", soll er geantwortet haben. Ich fürchte, so ist es auch mit dem unmoralischen Verhalten der Kopierschutztyrannen: Selbst wenn die sich falsch verhalten, ist darum nicht ihr Anliegen falsch.
Nein: nicht darum, sondern aus andern Gründen...

18 November 2005

Deutsche philosophische Blogosphäre (3)

Bevor das untergeht, weils nur als Kommentar sichtbar ist, wiederhole ich hier den Hinweis von Julio Lambing, der selbst ein Blog als persönlichen Zettelkasten pflegt, auf:

Aber wo sind die philosophischen Blogs? Fragen der Ethik? Erkenntnistheorie? Warum setzen nicht mehr Dozenten diese Form in der Lehre ein? Oder bin ich bloß zu blind? Bitte gern weitere Hinweise auf interessanten Lesestoff!

17 November 2005

Mensch und Raum

Das Thema sieht man meist im Zusammenhang mit der Veränderung des Raums in der Moderne behandelt. Die Entwicklung der Städte, die Beschleunigung des Lebens usw. Eine Ausnahme ist da die Dissertation von Nana Hartig, Mensch im Garten : Gartenerfahrungen als Spiegel mythischen Denkens. Wer das Buch in einer Buchhandlung sieht, möge sich nicht vom bunten Umschlag abschrecken lassen: das ist kein Ratgeber.

Allerdings ist es auch keine philosophische Studie, sondern eine, die unter der Schirmherrschaft des Ethnologen Werner Mezger entstanden ist. Entsprechend gibt es empirische Anteile: Interviews mit Gartenbesitzern. Aber "Denken" ist schließlich auch etwas, das von irgendjemandem vollzogen wird, so dass es nicht auf Anhieb der verkehrte Ansatz sein kann, wenn man sich diesen Denkenden zuwendet...

16 November 2005

Nachtrag zu Heideggers Nazismus

Man könnte fast fragen: Heidegger immer noch ein Nazi? (1, 2)
Im Wikipedia-Artikel über Heidegger findet man Literaturhinweise und kurze Darstellung des ersten Heidegger-Aufregers nach dem Buch von Victor Faria Heidegger et le nazisme 1987 sowie der seinerzeit von Altwegg herausgegebenen Dokumentation über die folgende Debatte in Deutschland. Mir ist zudem gerade ein neues Buch unter die Finger geraten, von James Phillips: Heidegger's Volk : between national socialism and poetry. Eine Rezension dazu aus den Notre Dame philosophical reviews von Hans Sluga. Aus den ersten Sätzen von Phillips' Buch:
Martin Heidegger's engagement with National Socialism was a philosophical engagement, even thought it appeared -- and more than appeared -- to be an abdication of philosophy. ... What Heidegger desired in 1933, and what he imagined he could effect by running the university in collaboration with the new regime, was ... the irruption of the nonideality of the political realm into philosophy.


Der Fall Berger (2)

In der ZEIT hat Robert Leicht, mit einem Furor der beinah nach persönlichem Beleidigtsein aussieht, die Geschichte des Falls Berger nacherzählt, die Widersprüche werden immer zahlreicher und schwerwiegender. Im Beitrag von Leicht auch per Links Belege.
Nun scheint der Fall immer mehr ins Verrückte abzugleiten: kann man dies noch als böswilligen Betrug (und damit als Fall für die Moraltheorie) werten, oder hat Berger ein Identitätsproblem als konfessionell gespaltene Persönlichkeit?

Leicht zitiert zum Schluss die Heidelberger Fakultät, und die stellt fest, dass die akademische Lehre mit Bergers Kapriolen nicht infrage steht. Recht so.

14 November 2005

Die Nietzsche-Enttäuschung

Es mag einige geben, denen es beim Nietzsche-Lesen so geht wie mir: die Aura des Namens scheint durch die Texte nicht gerechtfertigt. Nachgerade grotesk wirkt dann die Selbstbeweihräucherung Nietzsches in den späten Briefen und im Ecce homo. Nehmen wir z.B. "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn", wo Nietzsche die These aufstellt, das Sprache lügt, weil die Begriffe abgehalfterte Metaphern sind, die den Gegenständen gar nicht entsprechen, einmal grob ausgedrückt. Hier ein Zitat:
Nur durch die Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen, er besitze eine »Wahrheit« in dem eben bezeichneten Grade. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie, das heißt mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln. Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber Weiterzuschließen auf eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde. Wie dürften wir, wenn die Wahrheit bei der Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt der Gewissheit bei den Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre, wie dürften wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns »hart« noch sonst bekannt wäre, und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung! Wir teilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Kanon der Gewissheit!
Ja und, möchte man sagen? Ist das nicht vielleicht ein kleiner Irrtum darüber, was sprachliche Konventionen sind? Und müsste man nicht ein wenig mehr über "hart" sagen, als dass es nicht "sonst bekannt" ist?
So geht es mir mit allen Äußerungen, die ich von Nietzsche zu Themen der Erkenntnistheorie gelesen habe, und mit vielem, was er zur Moralphilosophie schreibt. Es passt nicht zu dem, was man erwartet, wenn man sich die großartige Wirkung seiner Philosophie ansieht: auf Schriftsteller, auf Philosophen. Vielleicht Zeit für ein Buch, das sich einer ähnlichen Enttäuschung widmet: Nickolas Pappas vom City College of New York schreibt über The Nietzsche Disappointment, mein heutiger Buchtipp. Es geht um Nietzsches Zeitphilosophie, bzw. den Widerspruch zwischen seiner Zeitphilosophie (Stillstand!) und dem, was Nietzsche von der Zukunft erwartete (Umbruch!). Wie geht das zusammen?

13 November 2005

Heideggers Irrationalismus ...

mspro hat in seinem Blog Mymspro einen lesenswerten Kommentar geschrieben zur Frage. Ich denke wie er, dass Faye nicht richtigherum fragt. Weil Nazismus (auch) eine moralisch wertende Kategorie ist, wirft Fayes These eigentlich die Frage auf, wie wir mit dem bösen Heidegger weiter umgehen. Ob sich die philosophische Seele beschmutzt, wer Heidegger liest.
Aber vielleicht ist es eher umgekehrt mit Heidegger und den Nazis. Vielleicht hat Heideggers etwas verschwiemeltes Denken, mehr auf Tiefe denn auf Klarheit zielend, in seiner Sorglosigkeit einen Denkstil des Raunens salonfähig gemacht, der sich leicht missbrauchen ließ. Vielleicht trägt Heideggers Irrationalismus zur Hochzeit des Irrationalen in den dreißiger Jahren bei. (Dieser Gedanke geht auf mehrere Äußerungen Ingeborg Bachmanns zurück, die das ein wenig schärfer formuliert.)

Gerechtigkeitshalber muss man feststellen, wie wenig 'Rationalität' vor politischer Dummheit (und schließlich Unmoral) schützt. Dass der Urvater der Analytischen Philosophie, Gottlob Frege, auch Sympathien für Hitler und die Nazis gehabt hat, weiß man seit 1994 (Jg. 42 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie), als sein "politisches Tagebuch" aus den zwanziger Jahren bekannt wurde.

09 November 2005

Nazi Heidegger?

Jaja, das Fragezeichen in der Überschrift ist ein bisschen heuchlerisch, denn jeder weiß ja, dass der "versteckte König" der Philosophen (Hannah Arendt schreibt das 1978 als Erinnerung an die Zeit, da sie sich nach Freiburg zum Studium aufmachte) sogar Rektor wurde in Freiburg unter den Nazis und eine grässliche "Rektoratsrede" hielt. Alte Hüte also?
Ist wohl nicht damit getan, sondern eine interessante Frage, ob Heideggers Philosophie nazistische Elemente aufwies, und zwar a) in den dreißigern, als er nahe dran war, und b) später, nach dem Krieg. Letzteres wäre ja ein Prüfstein, an dem der "echte" Heidegger erkennbar würde (denn dass Heidegger auch ein opportunistischer und eitler Knopf, ach nee: Kopf, war, dürfte zustimmungsfähig sein). Ist Heideggers Philosophie weltanschaulich gefärbt, dann fragt sich zudem, ob diese Weltanschauung auf jene abfärbt, die sich von Heideggers Philosophie beeinflussen lassen. Das ist vermutlich der Kern, warum Emmanuel Fayes Buch Heidegger, l'introduction du nazisme dans la philosophie, in Frankreich so einen Wirbel gemacht hat, denn der Einfluss Heideggers gerade auf die Großdenker ist ja bekannt.

Ich wurde erst jetzt durch eine Zusammenfassung in Information Philosophie 4/2005 darauf aufmerksam. (Die Nummer ist übrigens auch interessant wegen eines kritischen Artikels, der "Faszination Agamben" überschrieben ist, aber eher "Deflating Agamben" heißen könnte.)
Faye hat seine Thesen auf deutsch in der ZEIT vorgetragen, wo auch eine lesenswerte kritische Antwort von Thomas Meyer erschien.

07 November 2005

Ethisch bilden

War krank, und musste darum dieses schöne Geschäft eine Weile ruhen lassen: lieber im Bett als im Netz gewesen.
Aber nun: Kennen Sie schon den Treffpunkt Ethik? Ein Angebot der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung, entsprechend sind die dort angebotenen Themen aufbereitet. Ich finde die Darstellung ansprechend und das Link-Angebot gut; so stieß ich auf ein Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Wertewandel von 2001. Geht natürlich um die Gesellschaft, und die dürfte sich in den letzten Jahren weiter gewandelt haben. Auch möchte man darüber nachdenken, inwiefern die "politische Bildung" mit dem Wertewandel zu tun hat, soll heißen: ob Werte in den Bereich der Politik gehören (unbedingt!) und ob sich die mit Politik Befassenden gut damit auskennen (naja).

Das Wörtchen "naja" scheint eine deutsche Eigenart zu sein, wie ein Prof aus der Schweiz einmal erzählte, der das Wörtchen erst in Deutschland kennengelernt hatte. "Bei uns (in der Schweiz) gibt es das nicht, dieses Mittelding." (Bitte im gemütlichen Schweizerdeutsch gesprochen vorstellen.) Er pflegte die bei ihm eingereichten Essays mit "gut", "ungenügend" oder "naja" zu bewerten. "Ungenügend" bedeutete, dass man den Essay überarbeiten und noch einmal vorlegen musste. "Naja" hieß, dass er zwar nicht gut war, aber nicht überarbeitet zu werden brauchte. -- Ich glaube, ich nehme das "naja" oben zurück und vergebe ein "ungenügend" ...

30 Oktober 2005

Nobelpreise für Geisteswissenschaftler?

Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten meint, es sei "nicht mehr zu rechtfertigen, dass der Nobelpreis einseitig an Natur- und Wirtschaftswissenschaften vergeben wird", so ließ sich kürzlich der in Jura und Philosophie promovierte Geisteswissenschaftler in der ZEIT lesen. Von der Pfordten lehrt inzwischen wieder in Göttingen, natürlich Rechtsphilosophie. So ganz hat er die juristische Diktion nicht abgelegt.
Ein bisschen erstaunt mich schon der fordernde Ton des Artikels: Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften brauchen auch einen Nobelpreis -- her damit!
Warum brauchen wir auch einen Nobelpreis?
a) Von der Pfordten meint, "dass die selektive Vergabe des Preises viele wissenschaftliche Fächer benachteiligt". Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Verständnis von "Benachteiligung" mit dieser These nicht vereinbar ist. Ist jemand benachteiligt, der nicht Lotto spielt, weil er keine Möglichkeit hat, im Lotto zu gewinnen? Es ist richtig, dass diese Analogie nicht perfekt ist, weil Geisteswissenschaftler nicht einfach mitspielen könnten, wenn sie wollten. Aber sie zeigt doch, dass die Art und Weise, wie materielle Güter verteilt werden, mit dazu beiträgt, etwas als "gerechtfertigt" anzusehen. Ist es ungerecht, dass die Naturwissenschaften einen Nobelpreis haben und wir nicht?

b) Von der Pfordten meint, dass die Leistungen mancher Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler der Menschheit ebenso nützlich oder nützlicher waren als diejenigen der offiziellen Preisträger: "vorausgesetzt, man verkürzt Nützlichkeit nicht auf naturwissenschaftlich-technische Entdeckungen". Das zielt auf die ursprüngliche Definition der Preiswürdigkeit; von der Pfordten meint, dass mit der Beschränkung auf Chemie, Medizin, Physik, Literatur und Frieden (sowie Wirtschaft, für die das Geld aber nicht aus Schweden kommt) den Geisteswissenschaften "implizit" eine "vergleichbare gesellschaftliche Nützlichkeit abgesprochen wird", weil die Schwedische Akademie sie nicht berücksichtigt. "Auf diese Weise schafft der Nobelpreis eine globale Zweiklassengesellschaft der Wissenschaften und Wissenschaftler." Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind so etwas wie die dritte Welt im Reich der Wissenschaften?

c) Schließlich meint von der Pfordten, dass zwar Nobel den Preis gestiftet habe, der Rang des Preises stamme aber aus der Expertise der Schwedischen Akademie und der globalen Aufmerksamkeit. Daher könne man nicht mehr sagen, dass der Fächerkanon Nobels Privatsache sei.
Die Reputation des Preises ist zum symbolischen Gemeingut der gesamten Menschheit geworden. Dann erscheint es aber geboten, die Stifterentscheidung zu ergänzen und die wissenschaftlichen Fächer gleich zu behandeln.
Symbolisches Gemeingut! In diesem Sinne scheint mir auch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika symbolisches Gemeingut der ganzen Welt zu sein; es wäre nur gerecht, wenn wir sie alle mitwählten, schließlich sind wir ja auch alle von ihren Entscheidungen betroffen.

Nein, mal ernsthaft. Von der Pfordten möchte, dass bestimmte Fächer gesellschaftlich aufgewertet werden. (Die Reputation von Personen ist kaum zu verbessern; Popper oder Rawls, die von der Pfordten nennt, brauchen keinen Nobelpreis. Aber wer im letzten Jahr den Physik-Nobelpreis bekommen hat, das weiß ich heute nicht mehr.) Doch scheint mir, dass der Einfluss von Geisteswissenschaften auf die gesellschaftlichen Diskurse nicht geringer sein dürfte als der von Naturwissenschaftlern.
Brauchen die Geistes- und Sozialwissenschaften also eine Aufwertung? Ja, trotzdem, möchte man sagen. Aber die sollte nicht oben ansetzen, beim bekanntesten Wissenschaftspreis. Sondern unten, bei dem Gewicht, dass ihnen in der Forschungsförderung eingeräumt wird. Und der selbstgestellte Anspruch auf Preiswürdigkeit sollte sich bei den Geisteswissenschaften auch niederschlagen a) in besserem Marketing ihrer Erkenntnisse, b) in der Herstellung von Vergleichbarkeit. Exzellenzpreise brauchen auch einen Maßstab, an dem sich Exzellenz messen lässt.

29 Oktober 2005

Intelligent Design (4)

Sind noch Worte nötig? Die Zahl der Medienbeiträge steigt stetig (für ältere siehe Skeptico-Blog, meine Beiträge: 1, 2, 3, und hier auch mal eine Webseite eines Vertreters von ID) . Darum finde ich auch immer wieder was.
Hier gibts Paleys Watchmaker-Gedankenexperiment im Originaltext.
Schön finde ich diese Seite, die die kaum ernsthaft Kontroverse zu nennende Debatte zwischen Intelligent Design-Advokaten und dem "Mainstream" wiedergibt.
In der jüngsten ZEIT eine schöne Darstellung des Prozesses vor dem obersten amerikanischen Gericht, wo ID-Anwalt M. Behe zugeben musste, dass er nicht dasselbe unter Wissenschaft versteht wie die Academy of Sciences.

24 Oktober 2005

Haben informationelle Entitäten auch Rechte?

Manche Philosophen erfinden sich ihre Arbeitsgebiete; sie können sich dann jahrelang damit beschäftigen, mit anderen über die Berechtigung ihrer Erfindung zu streiten. Bei den angewandten Ethiken ist noch viel Platz. Kürzlich las ich in einem systematischen Überblick, dass sich die Moraltheorie folgerichtig von einem anthropozentrierten zu einem biozentrierten Bild gewandelt habe, oder mit anderen Worten: von der Gesellschafts- zur Umweltethik. Die beiden Philosophen Luciano Floridi und Jeff Sanders schlagen in ihren gemeinsamen Arbeiten vor, eine aus ihrer Sicht grundlegendere ethische Theoretisierung zu wählen (hier ein Zitat aus Mapping the foundationalist debate in computer ethics (2002), eine neuere Fassung des gleichen Aufsatzes in: Readings in CyberEthics, hg. von Richard A. Spinello und Herman T. Tavani, 2. Aufl., Sudbury/MA : Jones and Bartlett, 2004, 81-95):
Information Ethics ... is a non-standard, environmental macroethics, patient-oriented and ontocentric, based on the concepts of information object/infosphere/entropy rather than life/ecosystem/pain. The definition requires some comments.
In der Tat! Die klassische Ethik sei subjekt- und handlungszentriert und hätte nur wenig Interesse an dem Objekt der moralischen Handlung. Umweltethik geht da einen Schritt weiter, weil sie immerhin auch die Auswirkungen der Handlungen betrachtet. Aber immer noch stehe das Leben im Mittelpunkt.
Information ethics suggests that there is something even more elemental than life, namely being, understood as information; and something more fundamental than pain, namely entropy. According to Information Ethics, one should also evaluate the duty of any rational being in terms of contribution to the growth of the infosphere, and any process, action or event that negatively affects the whole infosphere. ... The ethical question asked by Information ethics is: "What is good for an information entity and the infosphere in general?"
Und was ist eine "information entity"? "Human beings as well as animals, plants, and artifacts". Und jede dieser Entitäten hat "moral claims".
Theoretisch sieht das in meinen Augen elegant aus, was Floridi und Sanders machen, diese Bewegung der Umarmung der klassischen ethischen Theorien. Aber praktisch frage ich mich, was für "moral claims" z.B. Bücher haben können. Und ob diese Moral Claims den Information Entities als Klasse oder einer bestimmten Entity als Individuum zugeschrieben werden. Und wie man sie erkennt.

Selbstverständlich ist auch dieser Blogbeitrag eine Information Entity, also passen Sie auf, wie Sie ihn lesen! Er ist schnell beleidigt...

23 Oktober 2005

Der Italienische Stiefel: Hinweis auf Intelligent Design der Schöpfung?

Das Thema Intelligent Design beschäftigt die Öffentlichkeit wohl immer noch. Wer das Thema in Google eingibt, bekommt schon aus Deutschland eine beachtliche Anzahl von Beiträgen. Eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung, die zudem darüber nachdenkt, ob Evolutionstheorie und ID überhaupt die gleichen Fakten erklären wollen, liefert Tim Lewens aus Cambridge in seinem Beitrag zum Supplement 56 Philosophy, Biology and Life (Cambridge, 2005) zur Zeitschrift Philosophy. Übrigens: Gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass Italien von einem Stiefelliebenden Gott so geschaffen wurde, damit es aussieht wie ein Stiefel? Das schließt der Kreationist M. Behe nicht aus. Lewens dazu: "This extraordinary claim could only come from someone who rules out sources of data external to the object itself in evaluation whether the object has been intelligently designed for one of its effects. Yet these data are crucial."

20 Oktober 2005

Wenn ein Katholik evangelischen Studenten das Theologie-Examen abnimmt

... dann ist das schon ein starkes Stück, und wirft eine Reihe von auch philosophischen Fragen auf.
Seit zig Jahren ist Klaus Berger Professor für Neues Testament an der Fakultät für evangelische Theologie in Heidelberg. Heute berichtet die ZEIT (nicht online, aber Referat bei Spiegel online), dass der fleißige Professor -- jedes Jahr ein neues Buch --, von dem man wusste, dass er früher katholisch war, nie aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Berger will, zitiert der Spiegel, keinen Betrug begangen und nichts verheimlicht haben. Was das gehen soll, ist allerdings unklar, denn die Angaben widersprechen sich: a) wisse die evangelische Fakultät in Heidelberg seit 30 Jahren Bescheid, b) habe ihn in Heidelberg nie jemand nach seiner Konfession gefragt. Was denn nun?
Die ZEIT schreibt, Berger habe, fragte man ihn nach seiner Konfessionszugehörigkeit, stets seinen Gehaltsbescheid gezeigt, der evangelische Kirchensteuer ausweise. Im Spiegel wird er nun zitiert mit der Behauptung, er sei "juristisch Mitglied der evangelischen Kirche", weil er Kirchensteuer zahle und getauft sei. Das ist nicht recht nachvollziehbar. Sicher will Berger nicht damit sagen, dass er evangelisch getauft ist; vielmehr verhält es sich so, dass die Taufe von beiden Konfessionen anerkannt wird. Wie verhält es sich mit der Kirchensteuer? Kann man sich einfach aussuchen, an wen man Kirchensteuer zahlt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man Kirchensteuer zahlt, weil man ein Formular ausgefüllt hat und das Kästchen "evangelisch" angekreuzt hat, und schließlich unterschrieb, dass man die Angaben alle nach bestem Wissen wahrheitsgemäß gemacht hat? Es bleibt in jedem Fall nur der Schluss, dass ein Katholik, der evangelische Kirchensteuer zahlt, damit er die Möglichkeit hat, die Frage nach seiner Konfession mit Verweis auf diese Zahlung zu beantworten, lügt. Eine Lüge ist eine Form kommunikativen Handelns, und wie jede kommunikative Handlung braucht sie nicht in Gestalt von Worten daher zu kommen. Dass Berger nun behauptet, er habe nie gelogen, ist eine weitere Lüge: denn er ist nicht dumm und ungebildet genug, um nicht zu wissen, was er tat.
Dass er jetzt bzw. seit kurzem -- im Netz findet man einen Artikel im Sonntagsblatt Bayern vom 9.10., in dem auch schon steht, dass Berger "nie aus der katholischen Kirche ausgetreten" sei -- nicht bestreitet, katholisch zu sein, wenn er darauf angesprochen wird, verändert nicht, wie sein Verhalten seit dreißig Jahren zu beurteilen ist. Berger habe das "Geheimnis" selbst lüften wollen, bevor er emeritiert werde: wenn es ein Geheimnis war, hat es wohl nicht jeder gewusst.


Was für einen Grund hatte Berger für sein Manöver überhaupt? Berger habe, so gibt ihn der Spiegel wieder, in jungen Jahren eine von der katholischen Lehrmeinung abweichende Meinung gehabt, so dass er nicht katholischer Theologieprofessor werden konnte. Dazu: Berger hat die Meinung gehabt, steht dort, nicht, dass er sie vertreten habe. Wenn er im stillen Kämmerlein eine andere Meinung hat als die offizielle Kirche, wieso sollte ihn das hindern, nach einem katholischen Amt zu streben? Ich kann mir nur zwei Gründe vorstellen: a) er fürchtete, dass seine abweichende Meinung einmal herauskäme, b) er wollte die katholische Kirche nicht über seine Meinungen täuschen. Im Fall a) fragt man sich, ob das so schlimm wäre oder wirklich nicht zu vermeiden, bei b), die weitaus spannendere Frage, ob es wirklich dem Gewissen konform sein kann, die eigene Kirche nicht zu täuschen, aber die andere.
Beide Gründe scheinen mir recht schwach; ich vermute, dass Berger die fragliche Meinung schon öffentlich gemacht hatte, so dass ihn die Katholiken nicht eingestellt hätten.

Die These, dass nach dem Scheitern der Hoffnung auf ein katholisches Lehramt nur noch ein evangelisches übriggeblieben sei, dass er also, übertrieben ausgedrückt, zur Wahrung seiner Berufsschancen zum Betrug verpflichtet gewesen sei, scheint mir ebenfalls fragwürdig.

Ein paar weitere Fragen sind offen. Wie ist es zu beurteilen, wenn die katholische Kirche von diesem Betrug gewusst hat? Laut Zeit und Spiegel habe Berger von seinem katholischen Beichtvater seinerzeit die Erlaubnis bekommen, evangelische Kirchensteuer zu zahlen. Das habe damals sogar Ratzinger gewusst und gutgeheißen! Mit anderen Worten: die katholische Kirche hat keine (moralischen) Einwände, die evangelische zu täuschen. Was von Berger als Entschuldigung, vielleicht auch als dogmatische Rechtfertigung, gedacht war: die Oberen haben es gewusst, ist vor allem eine Ausweitung der Verantwortlichkeit. Vertrauen zwischen den Konfessionen stiftet es nicht.

Und was ist mit den Studierenden, die Berger in evangelischer Theologie unterrichtet hat? Er hat sogar (evanglische) kirchliche Examina abgenommen. Sind die jetzt alle ungültig? Die Meinung von jemandem, der sich als katholisch begreift, wird kaum der evangelischen Lehrmeinung entsprechen. Auf der anderen Seite hat Berger ja publiziert, so dass seine Meinungen bekannt waren; man wird darum, denke ich, seine Lehrkompetenz nicht infragestellen können oder hätte dies früher machen müssen.

Nachtrag [21.10.] Bisschen im Web umgesehen. Tatsächlich habe ich einen Artikel in der Münchner Kirchenzeitung gefunden, der zwar nicht mit Datum versehen ist, in dem Berger aber als 62 Jahre alt angegeben wird, der also von 2003 stammt. Auch hier sagt Berger schon, dass er katholisch ist. Wie geheim ist das Geheimnis?

18 Oktober 2005

Sollte Logik mit mehr oder weniger Symbolen auskommen?

Wittgenstein dachte, ihm genügt eine einzige logische Operation (wenn ich da ein paar Sätze im Tractatus richtig verstehe), und alles andre ließe sich davon ableiten. Grad hab ich ein Interview mit Shea Zellweger gelesen, der die gegenteilige Strategie verfolgt. Er meint, man müsse alle 16 möglichen logischen Konnektive mit einem eigenen Symbol ausdrücken. Der Fortschritt gegenüber einer traditionellen Notation sei ungefähr so wie der vom römischen zum arabischen Zahlsystem. Zellweger erläutert das ausführlicher auf seiner eigenen WebSeite. Interessant auch diese Seite eines Museums über Zellweger.
Was meinen Sie?

Propheten und Genies

Die Bildzeitung gibt oft Anlass zu philosophischen Betrachtungen, meist haben diese mit Ethik zu tun. Heute titelt Bild allerdings, "Klügster Mensch der Welt prophezeit: so geht die Erde unter" oder so ähnlich (hier online). Illustriert mit einem Bild, dass so aussieht, als stünde die Erde kurz vor der Explosion, umgeben von einem Strahlenkranz.
Was verbirgt sich dahinter? Der Astrophysiker Stephen Hawking äußert sich in der Fernsehsendung "Beckmann" zur globalen Erwärmung und malt ein Horrorszenario aus: die Erde werde sich wie die Venus auf 250 Grad Celsius erhitzen. Dem Szenario fehlen nur ein paar Details: z.B. der Zeitpunkt, zu dem es so weit sein wird.
Nachdenklich stimmt mich der Gebrauch des Wortes "Prophezeiung". Ein Prophet ist jemand, der Vorhersagen macht, die, so könnte man wissenschaftstheoretisch sagen, auf nicht falsifizierbaren Theorien gründen. Propheten haben Einblick in das göttliche Walten. Hawking aber ist Wissenschaftler. Er "prophezeit" nicht, er macht Vorhersagen.
Das scheint auch die Bildzeitung zu wissen, schließlich hebt sie ja hervor, dass Hawking nicht ganz dumm ist. Das kann, wenn es nicht allein dem üblichen Superlativismus des Boulevards zuzuschreiben ist, nur den Grund haben, dass die Kompetenz des Vorhersagenden für den Laien die Vorhersage glaubwürdiger macht.
Genügt denn dieser Verweis auf die Kompetenz? Hawking ist Astrophysiker. Weiß er mehr über die Zusammenhänge des Klimas und der globalen Erwärmung als andere, vor allem: als Experten in diesem Fachgebiet? Genügt es, ein Genie zu sein, um Recht zu haben?
Die Bildzeitung spielt, wie immer, auf der Klaviatur der Emotionen. Dabei spielt sie, wie immer, falsch.

Nachtrag [20.9.]. Wenn das Wort "Prophezeiung" dafür steht, dass die Vorhersage auf für Die Bildzeitung nicht nachvollziehbare Weise zustande kommt, dann ist der Hinweis auf den "klügsten Mensch der Welt" ist vielleicht einfach nur so zu verstehen, dass Hawking "höher ist als alle Vernunft" der Bildzeitung. Anders ausgedrückt: Hawking verschafft ihr eine Transzendenz-Erfahrung.

17 Oktober 2005

Nachspiel zu Wittgenstein, Popper und dem Feuerhaken

Noch ein Kurzhinweis für heute: Dass Wittgenstein auf Popper mit dem Feuerhaken losging, haben David Edmonds und John Eidinow ausführlich beschrieben (deutsch inzwischen bei Fischer als TB) -- ebenso die abweichenden Versionen der Zeugen. Dem philosophischen Hintergrund der Begegnung widmet sich Peter Munz in seinem Buch Beyond Wittgenstein's poker (Aldershot : Ashgate, 2004). Ausgangspunkt: Die Konfrontation war unnütz; Popper irrte sich darin, welche Position Wittgenstein vertrat; Wittgenstein hätte ebenso von Popper lernen können: "they were barking up the same tree", wie Munz schreibt. Hier gehts also um die Gemeinsamkeiten zwischen beiden.

Wie ein Japaner die Entstehung des moralischen Denkens Europas nachzeichnet

Wenn ein Japaner auf die Entstehung des moralischen Denkens bei den alten Griechen und den alten Israeliten blickt, was kommt dann dabei heraus? Eine komparatistische Studie (auch mit Inhaltsverzeichnis)! Seizo Sekine, der die Comparative study of the origins of ethical thought : hellenism and hebraism (Oxford : Rowman & Littlefield, 2005 -- übersetzt von Judy Wakabayashi) verfasst hat, ist Professor für Ethik und Altes Testament an der Uni Tokio; der Klappentext meint, dass sein eigener kultureller Rahmen der östlichen Philosophie ihm weitergehende Einsichten erlaubt. Ich denke, allein schon der ungewöhnliche Ansatz der Studie ist hier eine Erwähnung wert!

Metaphysik ans Telefon!

Die neue Nummer der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie widmet sich dem nachmetaphysischen Denken. Für Andreas Speer führt der Weg ins Mittelalter, wenn er die epistemischen, anthropologischen und historischen Bedingungen des Denkens analysiert. "Im Mittelpunkt steht der Begriff der Konvergenz". Wer wissen will, was da konvergiert, muss wohl den ganzen Aufsatz lesen. Reinhard Schulz, PD aus Oldenburg, fragt sich anhand einer Henrich-Habermas-Kontroverse, "Wozu noch Metaphysik?" Auch er widmet sich den anthropologischen Bedingungen des Denkens: auf letzte Fragen nur vorläufige Antworten finden zu können. Den Begriff der Vorläufigkeit in diesem Zusammenhang auf seinen Sinn zu überprüfen, wäre vielleicht auch ein lohnendes Unterfangen.

Dies ist ehrenhafte aber ziemlich trocken betriebene Philosophie. Lesen Sie gern Sätze wie den folgenden?
"Die einzig für den Menschen zugängliche Wirklichkeit ist nur möglich dank einer anderen, die es nicht ist. Indem sie das Sein besondert, stattet die Form das besonderte Sein mti einem transzendierenden Zeichen aus. Für den Menschen schafft sie, indem sie ihn von einer Totalität trennt, die ihm verweigert ist, ein Zeichen des Seins, das zugleich ein Ruf zum Sein ist."

So zitiert Schulz Jeanne Hersch. Ich frage mich: Wer verweigert dem Menschen die Totalität? Er sich selbst?

Etwas mehr Vergnügen macht das Telephone Book (Lincoln, London : University of Nebraska Press; und andere) von Avital Ronell, das eher mit den Bedingungen des Sprechens als denen des Denkens zu tun hat. Tolles Buch! Es gefällt mir a) als gestaltetes Buch, b) von der Schreiblogik. So heißt es im Vorwort:
"The Telephone Book is going to resist you. Dealing with a logic and topos of the switchboard, it engages the destabilization of the addressee. Your mission, should you choose to accept it, is to learn how to read with your ears. In addition to listening for the telephone, you are being asked to tune your ears to noise frequencies, to anticoding, to the inflated reserves of random indeterminateness -- in a word, you are expected to stay open to the static and interference that will occupy these lines."
C), nicht zu vergessen, hat Ronell ihren Kafka gelesen, von dem einige der schönsten frühen Beschreibungen des Telefonierens stammen. Insbesondere dem Phänomen der Zwischengeräusche, die man auch noch hört neben den Stimmen, die man zu hören wünscht, hat Kafka viel Aufmerksamkeit gewidmet. Dass im Zeitalter des Handys und der elektronisch gespeicherten Telefon"bücher" Ronells Telephone Book anders aussehen müsste, gibt ihm zugleich eine archäologische Aura...

16 Oktober 2005

Leibniz wie er schreibt und lebt

Gottfried Wilhelm Leibniz ist einer der Größten. Philosophen, Mathematiker, Bibliothekare. Die DFG hat ihren wichtigsten Förderpreis nach ihm benannt, eine wichtige deutsche Wissenschaftsgesellschaft heißt nach ihm, und eine schöne deutsche Bibliothek, von einer Menge Schulen ganz zu schweigen. Natürlich finden sich auch eine Reihe von Biographien und weiteres Material im Netz; die verlinkten Seiten sind ein guter Ausgangspunkt. Aber spannender und nicht minder kenntnisreich als diese ist Neal Stephensons Aufnahme von Leibniz als Figur in seine Barock-/Aufklärungs-Trilogie Quicksilver, The Confusion, The System of the World. Stephenson erzählt vom Beginn der Aufklärung, man sieht den Mitgliedern der Royal Society beim Experimentieren in London ebenso über die Schulter wie Leibniz im Gespräch mit Sophie von Hannover und anderen mehr oder minder intelligenten Hoheiten. Kryptographie, Logik, die Monadenlehre, die Frage der Identität von ununterscheidbaren Gegenständen, Newtons Streit mit Leibniz: alles da. Für mich eine glänzende Lektüre!

14 Oktober 2005

Philosophie-Blogs in D (2)

Inzwischen habe ich das Blog Phainomena von Manuel Schölles gefunden, das er in Zusammenarbeit mit der Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie unterhält. Die Hauptthemen kann man sich denken. Wer in der Nähe von Tübingen wohnt, profitiert außerdem von den Veranstaltungshinweisen.

Patrick Baum, Referendar bei Bonn, hat hier im Kommentar auf sein Weblog hingewiesen; er beschäftigt sich auf weiteren Seiten mit dem Thema "Raum und Ort in Philosophie und Geisteswissenschaften". Baum hat eine Menge Erfahrung mit dem Medium (Internet im Allgemeinen wie Blog im besonderen); seine lesenswerte Rezension zu Sandbothes Pragmatischer Medienphilosophie zeigt dies. Baum bemängelt übrigens zu Recht die Statik auf den Webseiten des Medienphilosophen; "Alles steht", möchte man in Umkehrung von Heraklits Kosmologie feststellen. Der auf seiner Veröffentlichungs-Seite als zukünftig angezeigte Sammelband Systematische Medienphilosophie ist übrigens längst erschienen.

13 Oktober 2005

Um 1900 feiern Literatur und Erkenntnistheorie Hochzeit

Thomas Mann, Hermann Broch, Robert Musil und andere Schriftsteller nehmen die Erkenntnistheorie ihrer Zeit zur Kenntnis und verwandeln sie in etwas Neues. Musil, der bekanntlich über Ernst Mach promoviert hat, ist dabei vielleicht das prominenteste und auch besterforschte Beispiel. Jetzt geht ein Sammelband, hg. von Christine Maillard (Littérature et théorie de la connaissance 1890-1935, Strasburg: Presses universitaires de Strasbourg, 2004), in insgesamt 20 Beiträgen dem Zusammenspiel von Literatur und Erkenntnistheorie um 1900 nach. Die Aufsätze sind deutsch und französisch; neben Germanisten haben hier auch Philosophen mitgewirkt. Die Münchnerin Verena Mayer z.B. sucht "Konstitutionsbeziehungen in der Philosophie um 1900" auf; Christine Maillard schreibt über die erkenntnistheoretischen Ansichten Alfred Döblins; Armin Westerhoff begreift Musils Poetologie als Erkenntnistheorie. Eine feine Sache!

12 Oktober 2005

Gibt es Philosophie in Schweden?

Natürlich hat Schweden Hochschulen, und an denen wird Philosophie gelehrt. Aber wer lehrt sie? Und was lehren sie? Und was war vorher?
Die Finnen haben Georg Henrik von Wright und die Hintikkas (Jaakkoo 1, 2 und Merrill B., von der ich keine Homepage finden konnte). In Norwegen hat immerhin mal Wittgenstein gewohnt. Dänemark ist uns durch Kierkegaard philosophisch ein Begriff. Und Schweden?
Wer die Sprache kann und lieber ein Buch liest als Webseiten, der kann sich nun leicht ein genaueres Bild machen: mit Henrik Lagerlunds Filosofi i Sverige under tusen aar, zu deutsch, wie leicht zu erraten: "Philosophie in Schweden in (den letzten) Tausend Jahren". Lagerlund erzählt die Geschichte schwedischer Philosophen von den Zeiten des Boethius von Dacien und den Anfängen der Universität Uppsala über Humanismus, Rationalismus, Idealismus bis zur Gegenwart: analytisch orientierte Schule ebenso wie Phänomenologen. Ingemar Hedenius und Anders Wedberg werden u.a. genannt; letzterer ist ja auch mit einer ganzen Reihe von englischen Veröffentlichungen hervorgetreten.

Wenn ich schon von Wright erwähne, fällt mir noch ein Verschen ein (es ist nicht von mir, aber die Quelle habe ich vergessen) -- für alle, die sich fragen, wie der Name gesprochen wird.
Georg Henrik von Wright
was not very strict.
He was also polite
if you called him: von Wright.

Empirische Grundlagen für das Leib-Seele-Problem

Juleon M. Schins, Assistant Professor in Delft, University of Technology, hat sich tatsächlich hingesetzt und darüber nachgedacht, welche empirischen Beweise es für die "nichtmaterielle" Natur des Bewusstseins gibt (Empirical evidence for the non-material nature of consciousness. -- Lampeter u.a. : Edwin Mellen Press, 2004). Lässt sich die alte Frage also empirisch lösen?
Wenn ein Naturwissenschaftler sich dazu äußert, kann man sich immerhin eher sicher sein, dass keine groben Fehler im physiologischen Teil der Argumentation sind. Man lese die paar Seiten über Dennetts Consciousness explained!

11 Oktober 2005

Wie Scruton Foucault liest

Roger Scruton, der streitbare -- und in einem wohlverstandenen Sinne konservative -- englische Philosoph, hat eine Abneigung gegen Michel Foucault, oder besser: gegen dessen Philosophie. In Scrutons Einführung An Intelligent Person's Guide to Philosophy, 1996 zuerst und dann in mehreren Auflagen als Taschenbuch erschienen, wird Foucault schon im Vorwort ein "fraud" genannt. Im Ganzen geht es aber mehr um Foucaults Einfluss und die Verwechslung seiner Leser -- und manch dekonstruktivistisch orientierter Philosophen -- von Tatsachen und Dingen mit den sie beschreibenden Ausdrücken.
Foucault tells us (in Les Mots et les choses (1966)) that man is a recent invention, and we are understandably startled. Does he mean there were no men around in the Middle Ages? No; he means that the concept: man -- as opposed to gentleman, soldier, serf, judge, or merchant -- has been current only since the Enlightenment. The implication, however, is that the concept creates what it describes, and that the theories of human nature which burst upon the world in the eighteenth century were theories which created the thing over which they disagreed. Until that time, there was no such thing as human nature.
Das kann natürlich nicht sein. Natürlich meint auch Scruton, dass die Unterscheidung zwischen den Dingen selbst und dem, wie sie begrifflich gefasst werden, wichtig ist. Er unterscheidet zwei Formen von Konzepten oder Begriffen, nämlich solche, die die Welt erklären, und solche, die sich auf unsere Reaktion auf die Welt konzentrieren. "Fisch" z.B. ist ein erklärendes Konzept, "Ornament" ist von der zweiten Art. Mit "Fisch" klassifizieren wir Gegenstände, die aus bestimmten Gründen zusammengehören; und die Entdeckung ist möglich, dass wir uns in der Verwendung des Begriffs irren -- etwa als Wale als Säugetiere erkannt wurden. Ornamente hingegen, meint Scruton, haben vor allem gemeinsam, dass wir sie als solche gebrauchen; sie werden erst zu solchen, indem wir sie als solche begreifen. Das kann man von Fischen nicht sagen -- und ebensowenig von Menschen.

Scrutons Einführung ist auf ihre Weise ebenso lesenswert wie die von Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Und Scruton beschäftigt sich auch mit Themen, die bei Nagel außen vor bleiben, z.B. Gott, Sex und Liebe, Zeit. Sein Ziel ist, Philosophie interessant zu machen, indem er zeigt, was er an ihr interessant findet. Das gelingt -- man wünscht sich eine deutsche Übersetzung!

10 Oktober 2005

Wo ist die deutsche philosophische Blogosphäre? (1)

Wahrscheinlich habe ich die falsche Suchmethode, um auf deutschsprachige philosophische Blogs zu stoßen. (Auch die Konzentration auf Google und Blogger wird ein wenig hinderlich sein.) Vielleicht hat jemand ein paar Tipps?
Immerhin sind mir schon ein paar schöne englischsprachige und italienische Blogs aufgefallen. Besonders beeindruckt bin ich vom inhaltsreichen Blog Certain Doubts, das es seit Juni 2004 gibt und das von der Universität von Missouri von Jonathan Kvanvig moderiert wird. Einer der jüngsten Posts widmet sich einem Lieblingsthema von mir, dem Skeptizismus. Kvanvig möchte zeigen, dass Ungers Skeptizismus auf einem Fehlschluss beruht. Und sieh sich einer die Kommentare dazu an!

Ein schönes Projekt ist Philosopher's Carnival -- und für alle, die gut genug englisch können, auch eine Möglichkeit, a) eigene philosophische Gedanken, b) das eigene Blog bekannter zu machen.

Blogs sind auch eine gute Möglichkeit, auf neue Online-Papers aufmerksam zu machen. Einigermaßen bekannt dürfte Weathersons Sammlung sein; bemerkenswert sind aber auch die Articoli filosofici, -- wie der Name schon vermuten lässt, eine italienische Sammlung. In einem der letzten verzeichneten Texte widmet sich Stefania De Donatis der Philosophie des Geschenks.

09 Oktober 2005

Gethmann neuer Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie

Das Verhältnis von Philosophen zur Zeit wird vielleicht abgebildet auf den Webseiten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Dort findet man nämlich unter "Aktuelles" immer noch den Hinweis auf den dort erst noch stattfindenden Kongress in Berlin. Dabei könnte die DGPhil doch auch mitteilen, dass bei der obligatorischen Mitgliederversammlung in Berlin ein neues Präsidium gewählt wurde. Neuer Präsident, gewählt für 2006-2008, ist (Prof. Dr. Dr. hc.) Carl Friedrich Gethmann von der Uni Duisburg-Essen. Zum neuen Geschäftsführer wurde (Prof. Dr.) Michael Quante, der praktischerweise an der gleichen Uni tätig ist. Das dürfte den Geschäftsablauf vereinfachen.

Zu den Zielen der DGPhil gehört es, "weiteste Kreise für die philosophische Arbeit zu interessieren". Vielleicht lässt sich der Neue Vorstand ja auch auf neue Wege ein, dieses Interesse zu wecken. Eine Möglichkeit könnte die Mitarbeit an einer Virtuellen Fachbibliothek Philosophie -- nach dem Vorbild anderer geisteswissenschaftlicher Virtueller Fachbibliotheken -- sein. Wie ich aus gut unterrichteten Kreisen weiß, wird an der UB Erlangen-Nürnberg bereits daran geplant.

06 Oktober 2005

Hilft Philosophie beim Lernen?

Schön wär's. Ob es so ist, das kriegen vielleicht die Gelehrten beim Internationalen Kongress für Kinderphilosophie heraus. Der findet dieses Jahr in Graz statt, vom 20.-23. Oktober. Es geht dort um die "philosophischen Grundlagen innovativen Lernens".
Ich frage mich, wie überhaupt innovativ gelernt werden kann, oder anders: ob die Begriffe "innovativ" und "lernen" auf diese Weise miteinander kombiniert werden können. Schließlich hat Lernen per definitionem mit dem zu tun, was man noch nicht weiß oder kann, Innovation aber eher mit etwas, das schon da ist und verbessert wird. Ist "innovatives Lernen" eine Verbesserung des Standardlernens? Haben wir denn davon einen klaren Begriff?
Oder geht es um die Lehre?
Aber halten wir uns nicht mit Kleinigkeiten auf; Innovation ist doch immer gut, oder?

[Update 4.12.2006] Übrigens hat die Kinderphilosophie in Österreich jetzt eine eigene Webseite www.kinderphilosophie.at. Ich setzte den Link mal im Vertrauen darauf, dass er funktionieren wird (gegenwärtig tut er es nämlich nicht). Dank jedenfalls an die Österreichische Gesellschaft für Kinderphilosophie, die sich die Mühe gemacht hat, mir diese neue WebAdresse extra mitzuteilen!

04 Oktober 2005

Wer hat zuerst von "Philosophie" gesprochen?

Wo kommt das Wort "Philosophie" her? Platon kannte es schon, und davor? Christopher Riedweg in seinem Buch Pythagoras (München : Beck, 2002 -- hier eine Rezension von Charlotte Schubert) meint, dass Pythagoras (ca. 570-480 v. Chr.) es erfunden -- und auf sich selbst bezogen -- hat. Die Forschung zuvor hatte die entsprechende Überlieferung bei Herakleides als Teil der üblichen Legenden und damit als wenig glaubwürdig eingestuft.
Riedwegs Buch ist nun auch in englischer Übersetzung zu haben: mein Anlass für diesen Post.

03 Oktober 2005

Die Kunst der Analyse von "Denkräumen"

"Konstellationsforschung ist eine von Dieter Henrich entwickelte Methode, in der Theorieentwicklung und kreative Impulse untersucht werden, die aus dem Zusammenwirken von unterschiedlichen Denkern in einem gemeinsamen "Denkraum" entstehen."
So leiten die Herausgeber Martin Mulsow und Marcelo Stamm in den neuen Sammelband "Konstellationsforschung" ein, der grad bei Suhrkamp als Taschenbuch erschienen ist. Was Konstellationsforschung sein soll, hatte Henrich in seinem Grundlegung aus dem Ich: Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen - Jena [1790- 1794] beispielhaft vorgemacht. Ich fühle mich an die Diskursanalyse einerseits, an den New Historicism andererseits erinnert. Von der Diskursanalyse unterscheidet die Konstellationsforschung das Ausgehen von Personen, vom New Historicism, dass es um Philosophie geht :-).
Der Sammelband bietet neben Anwendungsfällen auch eine Schärfung des theoretischen Programms der Konstellationsforschung: also eine willkommene Anregung dafür, was Philosophiegeschichte auch sein kann.

30 September 2005

Die ganze Philosophie in einem Band?

Für mich als Fachphilosophen ist eher die interessante Frage, ob der Brockhaus Philosophie den anderen einbändigen Nachschlagewerken Konkurrenz machen kann. Dabei muss man sich im klaren sein, dass er eine andere Zielgruppe hat: er richtet sich eher an den gebildeten Laien, und er ist kein reines Sach- sondern ein kombiniertes Sach- und Personenlexikon. Über die reine alphabetische Ordnung hinaus bietet er „Infokästen“ zu „Hauptwerken“, und zwölf „doppelseitige, reich illustrierte Sonderartikel“ zu „brisanten Themen der Philosophie.

Was ist brisant? Dass man zu Bioethik Streitbares sagen könnte, ist klar, aber zum „linguistic turn“, zum „Philosophieren“, zum „Wissen“? Der Artikel zum Wissen, illustriert mit zwei Bildern aus einem Labor (schwarzweiß, ein Foto, ein Stich) und dem bekannten Bild vom Kopf aus der Welthalbkugel in den Sternenhimmel), deren Nutzen nicht ersichtlich ist, beschäftigt sich nach einem Verweis auf Sokrates’ „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ –– die pseudogelehrte Fassung des Brockhaus „Eins weiß ich, dass ich nichts weiß“ möchte man gleich ins Arno Schmidtsche übersetzen: „1 weiß ich“ -- tatsächlich mit der aktuellen Frage, unter welchen Bedingungen man von Wissen sprechen darf. Es kommen sogar Gettier-Fälle, wenn auch nicht als solche kenntlich gemacht, vor: also ein Teil der (nicht mehr ganz aktuellen) Diskussion. Bedauerlicherweise endet der Artikel mit der Feststellung, Wissen sei „eine Haltung zur Welt, ein Modus des Für-wahr-Haltens -- und der Inbegriff der Erkenntnis überhaupt“. Damit ist zu wenig gesagt, und auch das Falsche, denn der Begriff unterscheidet sich ja gerade vom Für-wahr-Halten, doch worin?

Es gibt leider keinen Artikel zum Kontextualismus, der einem vielleicht beim Thema Wissen einfällt, es gibt keinen Artikel zum „Kognitivismus“ als Teilgebiet der Ethik, obwohl im Artikel zu MacIntyre von ihm die Rede ist. Die letztere Beobachtung lässt sich verallgemeinern: viele Artikel verwenden Begriffe, die man ihrerseits gern erläutert sähe, nach denen man aber vergeblich sucht. Damit ist das Lexikon nicht sehr geeignet für den philosophischen Laien. In der Tiefe und Genauigkeit der Artikel aber ist es anderen, z.B. meinem Favoriten unter den deutschsprachigen einbändigen Philosophielexika, dem Metzler Philosophie Lexikon, deutlich unterlegen. Die Infokästen sind meist Schnickschnack, die Illustrationen schön bunt, aber nichtssagend -- sehen Sie sich nur mal an, wie „Macht“ illustriert ist. Und muss man „Humanismus“ mit da Vincis Proportionenstudie bebildern?

Ein letztes, auch beim Blättern gefunden: Zum Internalismus gibts einen Infokasten mit dem Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank -- einem meiner Lieblingsthemen. Es steht dazu darin, dass Hilary Putnam mit diesem Experiment „den radikalen Externalismus ad absurdum zu führen“ versuchte. In einer Quizshow wäre Brockhaus damit ausgeschieden: denn Putnam versucht mit dem Gedankenexperiment den semantischen -- was „radikaler E.“ ist, kann Brockhaus auch nicht beantworten -- Externalismus (The meaning just ain’t in the head) gerade plausibel zu machen!

PS Auf der Umschlagseite wird eine "ständig aktualisierte Liste mit den wichtigsten Internetlinks" versprochen. Die Liste ist nicht nur nicht besonders gut, es stimmt nicht einmal die auf dem Umschlag angegebene URL -- dass so ein renommierter Verlag keine anständige Weiterleitung hinbekommt, ist schon bedauerlich.

29 September 2005

GUT und BÖSE sind mein

Was halten Sie von einem Buch Nie wieder Lebenshilfe! : Ratgeberfrei in 7 Tagen? Da muss man sich schon ein wenig verrenken, um den performativen Selbstwiderspruch zu vermeiden. Vielleicht als Ratgeber für Ihre Bibliothek?
Ratgeber sind Bestseller. Wer Rat gibt, kann sich dumm und dämlich dran verdienen. Betrachten wir den pekuniären Verdienst als Maßstab der dahinterstehenden Vernunft, dann stehen die Philosophen ihrerseits dumm da. Wie z.B. soll man es nennen, wenn ein professioneller Ratgeber das Wort "tun" großschreibt und sich als Warenzeichen eintragen lässt? Ist das Chuzpe? Hat ein Klügerer schon nachgegeben?
Ich geh gleich hin und trage "HANDELN" ein; und außerdem werde ich wohl DAS GUTE (TM?) und DAS BÖSE (TM?) als mein geistiges Eigentum schützen lassen...

28 September 2005

Computer und Philosophie -- Konferenz 2006 in Trondheim

Dafür gibt's eine Gesellschaft (IACAP), die eine europäische Sektion hat, die eine Konferenz organisiert, und zwar im Juni 2006, in Trondheim. Gerade läuft der Call for papers. Näheres dazu auf deren Seiten.
Übrigens gibt es eine Webseite, die sich nur dem Verzeichnen von Calls for papers widmet: papersinvited.com. Für die Einzeldisziplinen vielleicht nicht allzu hilfreich: aber für's Interdisziplinäre.

22 September 2005

Gruppendenken und Politik: Was politische Parteien mit Platons Höhlengleichnis verbindet

Wenn Gruppen eng zusammenklucken, haben sie eine sich über die Zeit verstärkende Tendenz, die Wirklichkeit auszublenden. Das zeigte der Psychologe Irving Janis in seiner Studie Victims of Groupthink (Boston : Houghton Mifflin, 1972). Seine Beispiele, u.a.: die Japanische Entscheidung, die USA in Pearl Harbor anzugreifen, Nixons Entscheidung, den Watergate-Einbruch zu vertuschen etc. Janis meinte, dass "der soziale Druck, der in zusammenhängenden Gruppen aufgebaut wird", insbesondere der Wunsch, die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander zu pflegen, eine "Wir-gegen-die"-Metalität aufbaut, die nach und nach ihre Fähigkeit zerstört, die Wirklichkeit realistisch einzuschätzen. Symptome seien u.a. die Illusion der Unverwundbarkeit der Gruppe, die Glaube an die Überlegenheit der eigenen Moral undsofort.
Ich kann bei der Lektüre solcher Sätze kaum umhin, an Kanzler Schröders Auftritt nach der Wahl zu denken: zwar Prozente verloren, aber trotzdem feiern wie ein Sieger. (Der Auftritt der CDU/CSU-Größen ruft dann eher die Geschichte vom Pyrrhus-Sieg in Erinnerung.)
In der dicken Einführung in die Philosophie von Manuel Velasquez (Philosophy. -- 9. Aufl. -- Belmont, CA : Thomson Wadsworth, 2005) wird das Gruppendenken von Janis mit Platons Höhlengleichnis in Verbindung gebracht: "What aspects of Plato's Myth of the Cave can be interpreted as groupthink?" Man möchte die Frage gleich weiterspinnen: Welche Aspekte vom Verhalten der CDU/CSU und der SPD nach der Wahl lassen sich mit dem Höhlengleichnis in Verbindung bringen?