blogoscoop

06 Dezember 2007

"Dieses Buch ist voller Fehler"

schreibt ein gewisser Holger Pinter über Wittgensteins Tractatus, und fährt fort: "Die meisten hat Wittgenstein selbst erkannt und in Philosophische Untersuchungen verbessert. Wenn Sie ein hochgebildeter Mensch sind, wird der poetische Nutzen des Tractatus für Sie größer sein als der wissenschaftliche". So als Fn. 14 in seinem Werk "Macht, Erfolg und andere Werte : sozialdarwinistische Ethik in Theorie und Praxis", welches in einem Verlag mit dem vielsagenden Namen Edition Esoterick 2007 erschienen ist.
Hhm. Vielleicht taugt das als Bildungstest? Für mich war der wissenschaftliche Nutzen von LWs Tractatus auch immer gering.
Hochmut kommt vor dem Fall. Pinter hat eine MySpace-Seite, auf der er sich in unverstellter Unverfrorenheit als der Weisheit letzter Verteidiger (und Nietzsche-Abklatsch) vorstellt. Da fragt er sich selbst: "Sie sind wahrscheinlich der letzte Philosoph, der Wert auf humanistische Bildung legt. Welchen akademischen Abschluss haben Sie?" Antwort, natürlich: Keinen. Er hat sich nämlich für so viel interessiert, dass er nix zu Ende gebracht hat.
Haha. Ich denke, es stimmt weder die explizite noch die implizite These: natürlich ist Pinter nicht der letzte Philosoph, der Wert auf humanistische Bildung legt, und sein Buch, das mir vorliegt, ist auch nicht wirklich Philosophie, sondern eher eine Art Ratgeber, dessen Tonlage dieses Zitat der ersten Seiten "Wissen ist Macht und Macht ist geil" ganz gut wiedergibt. Da schreibt Pinter dann auch, er wolle sich nicht an die Regeln halten, nach denen wissenschaftliche Aufsätze verfasst würden, weil er "die Regeln von einem konstruktivistischen Standpunkt aus für nicht mehr vertretbar" halte. Ok ok. Braucht niemand einen wissenschaftlichen Aufsatz zu schreiben. Aber wer solche Sätze schreibt, also die vage Pflicht spürt, begründen zu müssen, warum er nicht wissenschaftlich schreibt, sollte sich doch einen besseren Grund ausdenken: Wäre mir neu, dass der Konstruktivismus vertritt, dass es keine Wissenschaft mehr gibt, und keine Methoden.
In typischem Besserwissergestus ist auf seiner MySpace-Seite festgestellt, dass er neben diesem und jenem auch Leute nicht mag, die mit der Grammatik nicht zurecht kommen. Solches kann ich nun wieder nicht ausstehen: diese Eigenart, auf Äußerungen von anderen zu reagieren mit: "Hey, das finde ich falsch, und außerdem hast Du's nicht mal richtig geschrieben".

05 Dezember 2007

VDM again

Ernst Laas: Kants Analogien der Erfahrung. 59,- € bei VDM. Aber natürlich wieder ein Reprint, bei dem auf der Titelseite Ort und Zeit des Originals entfernt wurden, mit dem bei VDM obligatorischen und falschen Copyright-Hinweis; mit dem obligatorischen Hinweis, die schlechte Qualität des Reprints erkläre sich dadurch, dass hier ein altes und wertvolles Buch nachgedruckt würde. Also bitte! Andere Verlage können das doch auch, ohne Bleistiftanstreichungen wiederzugeben. Da muss man eben mal ein paar Seiten digital nachbearbeiten, statt die schlicht auf den Kopierer zu legen, falls es wirklich unmöglich sein sollte, eine einwandfreie Vorlage zu kriegen! "Auch ist eine leichte Unschärfe im Schriftbild bei alten Vorlagen normal." Wie bitte? Vielleicht einfach etwas höher auflösen!

Der Band ist ein Reprint der Originalausgabe von 1876, Berlin : Weidmann. Antiquarisch konnte ich zur Zeit das Buch nicht nachweisen.

PS In letzter Zeit erhalte ich Anfragen von Leuten, die Auskunft bei mir darüber suchen, wie ein Veröffentlichungsangebot des VDM-Verlags zu beurteilen sei. Da kann ich nur sagen: ich weiß nicht, wie VDM lebende Autoren behandelt. Ich habe dazu auch keine Meinung. Und die Ratschläge, die ich dazu geben kann, sind: Lesen Sie den angebotenen Vertrag sorgfältig durch. Fragen Sie jemanden, der sich damit auskennt.

Neuer Studienführer Philosophie

Frau Meyer hat ihren Studienführer Philosophie aktualisiert (ein-Fach-Verlag). Der war schon passend zum Sommersemester 2007 im Februar erschienen, aber er liegt mir erst jetzt vor. Der Klappentext bezeichnet ihn als "unverzichtbare Informationsquelle", man möchte sagen: eine Informationsquelle, die einem jedenfalls ein ordentliches Quantum an eigener Recherche abnimmt. Zum Beispiel ist dort aufgelistet, mit welchen Fächern das Philosophiestudium an diesem oder jenem Studienort sich kombinieren lässt. Hin und wieder finden sich auch Hinweise auf die Tradition eines philosophischen Seminars, wobei mir z.B. in Freiburg statt eines Hinweises auf die früher dort mal lehrenden Husserl und Heidegger der Fingerzeig auf die gegenwärtige phänomenologisch-hermeneutische Ausrichtung des Seminars lieber gewesen wäre. (In Erlangen vermisse ich den Hinweis auf die gute Ausstattung der Unibibliothek, natürlich.)

Bacon auf Deutsch

ist Schinken?
Tschuldigung für den Kalauer.

Francis, nicht Roger, kannte ich vor allem wegen eines Buches, nämlich des Novum Organum. Ein früheres Buch Advancement of Learning ist 2006 bei Haufe erstmals auf deutsch erschienen: Über die Würde und die Förderung der Wissenschaften. Der Verlag hat ein schönes und ordentlich kommentiertes Buch daraus gemacht, das ihm mit 50,- € ein bisschen teuer geraten ist. Es ist von Julia Schlösser kompetent übersetzt und von Hermann Klenner annotiert, der Bacon naturgemäß vor allem als Jurist betrachtet.

04 Dezember 2007

Schönberg und der Wiener Kreis

Hat die Schönbergsche atonale und dann Zwölftonästhetik was mit dem Neopositivismus des Wiener Kreises zu tun? Und mit dem frühen Wittgenstein?
James K. Wright hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, worin er Korrespondenzen nachgeht, etwa in der Idee der Universalsprache, dem Formalismus etc: Schoenberg, Wittgenstein and the Vienna Circle (2. Aufl. - Bern u.a. : Lang, 2007). Wright ist Musikwissenschaftler, so dass man davon ausgehen kann, dass im Schönberg-Teil keine falschen Analogien aufgemacht werden.

29 November 2007

Bloch-Bildband

Suhrkamp hat Ernst Bloch einen großzügigen, schönen Bildband spendiert, bearbeitet von Karlheiz Weigand, 2007. Die Ikonographie Blochs erhält damit ein neues Profil. Das Bild von einer privaten Theateraufführung mit Bloch im Kostüm etwa, oder der junge Adorno: ohne Glatze und mit Schnäuzer --
Der Band ordnet sein Material chronologisch und ist damit auch eine biographische Fundgrube. Kenntnisreich kommentiert.

28 November 2007

René Vallin -- eine Recherche

Dies schlummerte schon etwas in meiner Schublade:

Boethius' Consolatio Philosophiae (= "Trost der Philosophie" ist ein philosophischer Longseller. Im 17. Jahrhundert erscheinen ein paar Ausgaben, darunter eine, die ein gewisser Renatus Vallinus verantwortet. Sie erscheint in Leiden 1656 und dann noch einmal 1671. Sie ist besonders interessant, weil sie eine sorgfältige Edition mit textkritischen Ansätzen ist.

Wer ist dieser Renatus Vallinus? Viel ist nicht über ihn bekannt: Der Zedler weiß nicht einmal das, was hier angeführt ist. Vielleicht lässt sich mehr herauskriegen.

Lebensdaten habe ich bisher keine finden können, aber ein paar andere Details, über einen "Renatus Vallinus Nannetensis", einen "Canonicus" aus Nantes. Carl P.E. Springer schreibt in seinem Buch (1995) "The manuscripts of Sedulius : a provisional handlist", dass R.V. "collated a manuscript which belonged to his colleague, Antoine Legraine, against de Tournes' text. The manuscript, which R. V. describes as a "vetus codex" (p. 178), contains a number of interesting readings not attested by manuscripts listet in Huemer's critical apparatus" (S. 211).
Worauf sich die Seitenangabe (p. 178) bezieht, kann ich nicht sagen; mit dem Text ist de Tournes' Edition des Sedulius (Paschale carmen) gemeint. Dieser R.V. de Nantes scheint eigene Handschriften besessen zu haben, ist im Katalog der BNF (der französischen Nationalbibliothek) als Vorbesitzer eines Ex. der Christiana et docta divi Alchimi Aviti von 1536 genannt. Er besaß "une riche bibliothèque, avec des manuscrits datant en partie du xii siècle: Paris, BN lat. 326, 11227, 16859, 16860, 17403, 17409..." -- diese Bemerkung stammt aus Les Lettres de saint Augustin découvertes par Johannes Divjak, von 1983, S. 31.

Diese Rechercheergebnisse beruhen auf *Google Books*, nachdem World Biographical Index und andere bio-bibliographische Datenbanken den R.V. nicht kennen. Ich habe dort mit "rene vallin", "Renatus vallinus" und "Renati Vallini" gesucht.

Die lateinischen Handschriften, welche der R.V. de Nantes besessen hat, hat er 1656 dem Kloster Notre-Dame in Paris geschenkt. Das hat 100 Jahre später, also 1756, seinen Bestand Ludwig dem XV. angeboten, der ihn der Bibliothèqe imperiale, der späteren BNF, einverleibt hat.

Darüber gibt Auskunft:
Delisle, Léopold: Le cabinet des manuscrits de la Bibliothèque Impériale. Paris 1868ff. Reprint Hildesheim 1978. Bd. 1, S. 431.

Das Buch von Delisle (der ein bedeutender Bibliothekar des 19. Jahrhunderts ist) weiß einiges über die einzelnen Handschriftenbestände und wie die in den Besitz der BNF gekommen sind. Entsprechend gibt es da auch zwei Fußnoten (10 und 11) auf der Seite, die mitteilen, dass Vallin die Ms. latins 11227, 16859, 16860, 17403, 17409, 17447, 18067, 18093, 18122, 18222, 18421 besessen hat. Hier online.


Diese Information brachte mich auf die Idee nachzusehen, was denn das für Handschriften sind:

Inventaire des manuscrits latins conservés à la Bibliothèque Nationale sous les numéros 8823 - 18613 / Léopold Victor Delisle. - Nachdr. d. Ausg. Paris 1863 - 1871. Hildesheim [u.a.] : Olms, 1974

Darin findet sich folgende Information, geordnet nach Signaturen, über den Inhalt der Handschriften:

11227:
"Lilium medicine editum a mag. Berdardo de Gordonio" - Plusieurs
traités sur la peste, composés en 1349 (204) ; l'un d'eux est de
"mag. Petrus de Amonsis" (212) - XIV S.

16859:
Livres XV_XXII du meme ouvrage XII. - Or
(S. Aug., Cité de Dieu)

16860:
S. Augustinus, de nupciis et conc., de adulterinis conjugiis, de
sancta virginitate, de professione sancte viduitatis, de bono mortis,
contra quinque hereses, XI S.

17403:
Aug. de civitate Dei libri 1 - 14, XII S. - Aug.

17409
Aug. confessiones. - Rabanus in libros Regum (49). - XII S.

17447
Isidorus de summo bonno. - Aug. de fide catholica (40). - De
sacramentis (49 v). - Vers francais sur les avantages de la paix et
les malheurs de la France (52 v). - Gregorii Pastoralis (55) - XV S.
.

18067
Lettres choisies de s. Jérome. 1450. Pap

18093
Boetius, de Trinitate, cum commento Gilberti. XII S.
(dazu auch dies hier , S. 29)

18122
Petri cantoris Verbum abbreviatum. - XIII S.

18222
Yvonis Carnot. canones XII S.

18421
Cicero, Somnium Scipionis, cum expositione Macrobii. - XII S. -


Wie man sieht, sind das Schriften mit theologisch-philosophischem Inhalt: Augustin, Isidor, sogar Boethius. Angesichts dieses Besitzprofils halte ich es für einigermaßen wahrscheinlich, dass der Editor der Consolatio und dieser Mönch aus Nantes ein und derselbe sind, auch angesichts der Tatsache, dass einige der Handschriften aus dem 12. Jahrhundert stammen sollen (Quelle in der letzten Mail), was wohl auf ein gewisses bibliophiles / philologisches Interesse deutet.

Auf einer Webseite über die Geschichte des Riallé , die man hier sieht: , findet man die Notes historiques de l'Abbé Trochu. Darin taucht auch der RV de Nantes auf.
RV wird in einem Eintrag zu 1617 als "aumônier et chapelain ordinaire du roi et de surplus chanoine de la cathedrale de Nantes" genannt. Am 9. August 1659 hat er offenbar einen Grundstein gelegt zu einem bestimmten "manoir": da ist sogar ein Bild des Steins und der Inschrift! Für 1671 wird gesagt "le chanoine René Vallin décédé".

Das gibt doch gewisse Grenzen für die Lebensdaten...

25 November 2007

Gerechtigkeit und Wüste

Da gibt es ein Buch, hg. von Serena Olsaretti, das heißt "Desert and Justice". 2003 zuerst erschienen und nun als Paperback bei Clarendon in Oxford, 2007. Worum geht's da?
Die Kollegen von der Bayerischen Staatsbibliothek haben das 2003 so verschlagwortet:


Hätte man da nicht ins Grübeln kommen müssen? Hier empfehlen wir den Blick ins Wörterbuch! "Desert" bedeutet "Verdienst", und das erklärt auch, was "desert" mit "distributive justice" zu tun haben kann.

Literatur und Einstellung

Warum fällt es uns schwer, Ästhetik und Moral auseinanderzuhalten, wenn es um Kunstwerke geht? Warum finden wir Verschiebungen der Realität (z.B. die Möglichkeit von Magie) in Literatur unproblematisch, akzeptieren aber nicht, wenn uns derselbe Text einen anderen Begriff von Humor oder Moral andient für die Welt der Fiktion? Und warum weigern sich manchmal Leser, sich etwas vorzustellen, was im Text vorkommt?
Kendall Walton fasst seine Forschung dazu zusammen im Aufsatz "On the "(so-called) Puzzle of Imaginative Resistance", erschienen in The Architecture of the Imagination : new essays on pretence, possibility, and fiction, hg. von Shaun Nichols (Oxford : OUP, 2007).

Erkenntnistheorie für alle Sinne

Ist die Erkenntnistheorie zu stark auf die Augen bezogen? Brauchen wir eine Erkenntnistheorie des Geräuschs? Des Geruchs? Des Tastsinns?
Dazu Sounds : a philosophical theory, von Casey O'Callaghan (Oxford : OUP, 2007).

Dort auch neues zum Thema: Wenn ein Baum im Wald umfällt, und niemand hört zu, welche Farbe hat der Baum?
Oder: Dürfen Raumschiffe in SF-Filmen Geräusche machen? (Siehe Ch. 4 "The argument from vacuums")

24 November 2007

Roman und Philosophie im Widerstreit?

Ohne das Fragezeichen ist dies der Untertitel der Studie von Markus Gasser, welche den schönen Haupttitel trägt Die Sprengung der platonischen Höhle, 2007 bei Wallstein in Göttingen erschienen. Es ist ein intelligentes Buch, in dem es Gasser darum geht, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, wie sich die beiden Disziplinen vertragen: in der Literatur, nicht in der Theorie.
Allerdings freut er sich so sehr an seinem Streifzug durch die Literatur- und Mediengeschichte (mit Blick auf all die Lieblingstexte), dass das Systematische, so es nicht auf der Strecke bleibt, jedenfalls nicht mehr sichtbar ist. Ich mag 'Schlussworte', in denen nicht nur im letzten Satz eine Pointe steckt, sondern die auch noch deutlich benennen, welchen Ertrag die Vor-Worte gebracht haben. Da verzichte ich auch gern auf ein bisschen stilistischen Talmi-Glanz.

22 November 2007

K.I.T.T. schwul?

Diese Frage ist sicher keine philosophische. Die Frage, woher man das wissen kann, schon: Erstens erkenntnistheoretisch, zweitens anthropologisch, drittens queer.
Das Auto mit dem roten Schlitz, das ich heute für einen Zylonen halten würde, habe ich seinerzeit nicht wirklich oft gesehen. Daher erinnere ich mich nur dunkel an eine einschmeichelnde männliche Synchronstimme. Wer dem ersten Link oben folgt, liest, dass Hasselhoff (Experte?) seine Ansicht über KITTs sexuelle Orientierung mit dem Verhalten des Autos und mit seinem eigenen begründet. "Nicht jugendfreie Szenen" mit einem Auto können schließlich nur solche sein, in denen der menschliche Akteur für die Alterseinstufung sorgt.
Hoffs liegen also ein paar unhinterfragte Prämissen zugrunde, z.B. dass das Auto männlich ist, 2. das Autoverhalten genauso zu deuten ist wie Menschenverhalten. Welche Evidenzen haben wir für KITTs Männlichkeit? Welche für seine Menschlichkeit?
Wahrscheinlich müsste man sich besser in der Serie auskennen, um zu wissen, ob KITT überhaupt so was wie Persönlichkeit hat. Das Verhalten, insbesondere den Satz "Soll ich dich nach Hause bringen", würde ich aber ohnehin eher als typisches elterliches Verhalten deuten, gegenüber einem Kind, das noch nach Hause begleitet werden muss. (Denn dass KITT gemeint habe, zu Hause wolle es sich mit seinem Fahrer ins Bett legen, halte ich für keine plausible Prämisse.)

21 November 2007

Literatur-Agentur Danowski veröffentlicht Schelling-Bibliographie

Sieht aus wie ein Schweizer Verlag, ist aber bloß eine Kopierstation. Die sogenannte Literatur-Agentur Danowski vertreibt z.B. eine "Bibliographie der Schriften von und über" Friedrich Schelling "bis 1926", von Johann Jost, 2006 angeblich in Zürich erschienen. Angezeigt war dies so im Neuerscheinungsdienst der Deutschen Nationalbibliothek, welches Bibliothekaren und anderen beim Bücherkaufen hilft. Nicht sehen konnte man allerdings in diesem Heft die Information, die die DNB inzwischen in ihrem Katalog ergänzt hat, dass es sich nämlich um ein Werk handelt, das schon früher erschienen ist, und zwar als Kopie dieser früheren Ausgabe. Die DNB schreibt vornehm "Reprint" dazu, nämlich der Ausgabe Bonn : Cohen 1927.
Und wie teuer ist der Spaß?
Offenbar hat Danowski dasselbe schon einmal 1998 angeboten, heftweise. Das "Heft 1" mit 24 S. hat eine Preisangabe von 99,- $ im Katalog der DNB. Vermutlich ist es diesmal also noch teurer. Inzwischen habe ich außerdem andere "Bücher" gesehen, die Danowski vertrieben hat: 1seitig bedruckte, gelochte mit einem Faden zusammengebundene Loseblattsammlungen, für horrende Preise. Immerhin behauptet das DNB-Katalogisat, in den 54 Seiten des Reprints (gegenüber den 50 des Originals) sei noch ein "Nachtrag bis 2006 von Marian Danowski" enthalten. Na, so einen Nachtrag erstelle ich doch mit links! 390 Monographien zu Schelling weist allein der OPAC der UB Erlangen nach (Schlagwort). Antiquarisch ist der alte Jost übrigens für gut 30,- € zu haben.

Danowski ist ein immerhin auch der Wikipedia bekannter seltsamer Vogel.

20 November 2007

VDMs Reprints (4): "Edition Classic"

Eigentlich wissen wir ja schon gut über VDMs Reprint-Praxis Bescheid. Nun habe ich mich letztens davon irritieren lassen, dass VDM einige Werke durch den Vermerk "hg. von Esther von Krosigk" wie eine Neuausgabe erscheinen lässt. Und so haben wir Wilhelm Schuppes Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie hier. Also: Sind keine Neuausgaben. Stattdessen handelt es sich um einen Reprint vermutlich der Ausgabe von 1881, die übrigens auch schon der Scientia-Verlag 1963 nachgedruckt hatte. Wie immer bei den von mir gesehenen VDM-Reprints ist die Druckqualität mäßig, wenn auch nicht ganz so schlecht wie sonst. Warum VDM zwar eine Titelblattkopie bringt, dort aber Verlagsort und Druckjahr entfernt hat, bleibt deren Geheimnis.
Esther von Krosigk, die bekannte Expertin (ist es diese hier?) für die Geschichte, erledigt ihre Herausgeberarbeit mit einem 2seitigen Reihenvorwort. Darf ich mal ein bisschen zitieren?
"Ein Großteil der Erkenntnisse, auf denen unsere Wissenschaften heute aufbauen, gründen im Forscherdrang des 19. Jahrhunderts". Hhm, ja. Ein Großteil der Erkenntnisse, auf denen unsere Wissenschaften heute aufbauen, gründen auch auf dem Forscherdrang der [hier Epoche Ihrer Wahl einsetzen]. Für von Krosigk ist das 19. Jahrhundert so eine Art Gründerzeit der Wissenschaften, "und so entstand eine große Menge an grundlegenden Werken - häufig so einfach und plausibel geschrieben, dass es selbst für Laien spannend ist darin zu lesen. Noch heute."
Ah, hier ist also die Zielgruppe von VDM: die Laien! Die blechen vielleicht 54,- € für ein hässliches Paperback, weil sie nicht darauf warten wollen , dass Google Books erkennt, wie urheberrechtsfrei Schuppes (gestorben 1913) Werke sind. Und die sowohl Scientias als auch Elibrons Reprint verpasst haben. Den kann man übrigens bei Amazon.co.uk noch bekommen, für 8,77 Pfund.

19 November 2007

Schwule und feministische Anthropologie

laufen entgegengesetzt, entnehme ich Michael Gronebergs Aufsatz 'Bullenmänner' - Zur Biologisierung männlichen Begehrens. Während feministische Theoretikerinnen "no nature" in der Frage, wie das biologische Geschlecht auf das Verhalten wirke, vertreten, ziehen sich Schwule (aus politischen Gründen) auf "no choice" zurück. Dass sie darin ein genetisches Argument haben in Studien von Dean Hamer und Peter Copeland, war mir neu. Groneberg zitiert aber nicht nur zugleich Hamers eigenes vorsichtiges Resumee, dass Männer lediglich stärker als Frauen in ihren sexuellen Präferenzen erblich bedingt seien, er weist auch darauf hin, dass diesen Ergebnissen womöglich eine bestimmte Forschungsstrategie zugrundelag. Wenn Frauen und Männer am Ende des 20. Jahrhunderts die Plätze getauscht haben an den Polen Kultur und Natur, dann haben vielleicht beide etwas davon. -- Nur dass das in der Alltagskultur noch nicht angekommen ist.

Der Aufsatz Gronebergs in: Ders. (Hg.), Der Mann als sexuelles Wesen : zur Normierung männlicher Erotik. Fribourg : Academic Press, 2006, 5-36.

Boris Groys?

Ein Buch, das den Namen des Autors im Titel trägt und als Illustration ein Foto des Autors, ist ja wohl ein Egotrip, jedenfalls wenn der Autor noch lebt. Boris Groys veröffentlicht 2007 das Buch Groysaufnahme : philosophische Gedanken zum Kino. Der erste Teil sind Kurzglossen, je zwei Seiten, zu bestimmten Filmen. Das Philosophische im Untertitel macht neugierig. Na, mal sehen, was er zu diesem und jenem zu sagen hat.
Über Die another day (S. 26-27) wundert sich Groys, dass im Hollywood-Kino nie Arbeit zu sehen ist. Groys charakterisiert den üblichen Bond-Showdown als Eindringen des "vorbildlichen Konsumenten" Bond in den Ort des Verbrechens, "und das sind in der Regel riesige Fabriken, wo Menschen konzentriert und systematisch arbeiten, wirklich beschäftigt sind". Und die macht er natürlich kaputt, womit er die Arbeit quasi aus der Welt des Films exorziert.
Nach meinem Verständnis von Arbeit ist Arbeit das, was man beruflich tut. Bond ist Geheimagent, also rettet er beruflich die Welt. Der ganze Film zeigt ihn bei der Arbeit. Bond ist ein prototypischer Kapitalist, indem sich bei ihm die Arbeit schlecht vom Privatleben trennen lässt (was man ja auch daran sieht, dass er oft dienstlich mit Frauen ins Bett geht).
Über Delicatessen (S. 44-45) ist Groys fasziniert von der Frau, die groteske Machinationen aufbaut für ihren Selbstmord. "Im Endeffekt haben alle diese Maschinen nicht richtig funktioniert, und sie bleibt am Leben". Groys meint, dass die Maschinen die Metapher für die moderne Welt sind, und dass wir von Maschinen umgeben sind, die uns am Leben erhalten, aber keine haben, die uns den Tod bringt.
Da geht das Theoriepferd mit ihm durch, auch wenn Groys hier den individuellen im Unterschied zum Massentod etwa im Krieg meint. Abgesehen davon, dass diese Aussage über den Film nicht stimmt: der letzte Selbstmordversuch führt zum Erfolg. (Das Klingeln ihres Mannes erzeugt einen Funken, der das Gas entzündet, welches das ganze Stockwerk in die Luft jagt.)
Über Kill Bill schreibt Groys (S. 86-87), dass der Film "die Amerikaner als Opfer der Globalisierung" zeige, weil diese sich so verhalten wollten und so geschickt sein wollten wie Japaner und Chinesen: "Ihr ehrliches Bemühen, mit dem Schwert richtig umzugehen, mit einer leichten Handbewegung jemanden leicht zu töten, gelingt aber nicht ganz. Denn ihre Körper und ihre Haltung passen nicht ganz ins gewünschte Bild." Hhm. Uma Thurman spielt vermutlich keine Amerikanerin, und sie metzelt auch nicht 100 Asiaten nieder in Teil 1. Groys findet auch, dass dieses Misslingen dieselbe "Atmosphäre der Peinlichkeit" erzeugt, die er schon aus früheren Tarantino-Filmen kennt, wo "provinzielle Gangster sich übermäßig anstrengen, so cool wie nur möglich auszusehen". Groys meint auch, dass man heutzutage nicht mehr als Held geboren werde, wie z.B. noch Batman(!). "Stattdessen geht man in die lange und mühsame Lehre, um die Dinge zu lernen, die man braucht, um seine Heldentaten zu vollbringen. Ein solcher Lernprozess ist nicht individualistisch-amerikanisch, sondern östlich-bürokratisch." Ja, es stimmt: der Lernprozess ist ein Klischee des Karatefilms. Aber der klassische Karatefilm à la Karate-Kid ist ur-amerikanisch-individualistisch, weil er zugleich sagt, dass man alles werden kann, was man will.
Ach ja. Groys hat ganz andere Filme gesehen. Aber sein Buch mit den vielen Fotos von ihm zeigt ohnehin nur, was sein Titel auch sagt, dass er nämlich in allem und jedem nur sich selbst sieht.

Naturphilosophie?

Die Schwerkraft ist ein Rätsel, finden Erwin Kohaut und Walter Weiss. Das natürlich gelöst werden kann. Aber ich habe kein Vertrauen in die Ansätze eines dicken Buches Das Rätsel Gravitation und seine naturphilosophische Lösung (Wien-Klosterneuburg : Va bene, 2007), das die Frage "Was ist Zeit" auf einer Seite abhandelt. "Zeit ist die Art und Weise, wie Bewußtsein Veränderung wahrnimmt - und sonst nichts. (...) Besser gesagt: ohne sich veränderndes -, keine Zeiterfahrung und auch keine Zeitmessung." (S. 455)
Sind das nicht zwei verschiedene Dinge, das besser und das schlechter gesagte? Natürlich gibt es ohne "sich veränderndes" weder Zeitmessung noch Zeiterfahrung, weil sich z.B. der Zeiger auf der Stoppuhr nicht bewegte (keine Messung), und weil die Neuronen im Hirn nicht feuern würden usf. Wahr aber trivial.
Das heißt doch nicht, dass es keine Zeit gäbe! Finden Kohaut und Weiss übrigens auch, weil sie die Abwesenheit von Veränderung als Ruhe und "Ewigkeit" erklären (S. 456), und Ewigkeit ist ein zeitlicher Begriff. Oder seh ich da was falsch?

Wittgensteins Haus

Dass Wittgenstein mal ein Haus entwarf für seine Schwester samt allen Details, das immer noch steht und in Wien besichtigt werden kann, ist ja bekannt; außerdem weist hin und wieder der Klinkenhersteller FSB darauf hin, dass man dort auch Wittgensteins Klinke im Programm hat. Aber wie hängt hier Architektur und Philosophie zusammen? Jaja, Wittgenstein mag Bau- und Konstruktionsmetaphern. Doch das ist ein bisschen wenig, meint Roger Paden in: Mysticism and Architecture : Wittgenstein and the meanings of the Palais Stonborough (Plymouth : Lexington, 2007), und unternimmt es, dem nachzugehen. Dabei widmet er besondere Aufmerksamkeit dem kulturellen Kontext des Wien des Fin de siècle, und versucht außerdem, das Haus als Ausdruck der Werkeinheit zu interpretieren, die auch Tractatus und PU umfasst. Ein Kapitel trägt den netten Titel "Wittgenstein's self refuting biography"; und als Beitrag zur philosophischen Biographie LWs will Paden das Buch auch verstanden wissen.

Was ist das denn?

http://www.ludusglobi.de/

23 Oktober 2007

Lektüre für mehr Zeit

Ein Buch, das ich vielleicht lesen würde, wenn ich mehr Zeit hätte: Tsenay Serequeberhan: Contested memory : the icons of the occidental tradition. - Trenton : Africa Wolrd Press, 2007. (ISBN 978-1-59221-461-7). Aus meinem auch literaturwissenschaftlich geprägten Blick geht's dem in Eritrea geborenen Autor darum, das Kolonialismus-Thema in die Philosophie zu tragen, indem er Kant, Hegel und Marx als 'Ikonen' der abendländischen Tradition kolonisierendes Denken nachweist: das natürlich die Erben dieser Philosophen übernommen haben.
"particulars masquerading as universals -- not only the use of particular cultural types, but culturally specific definitions of what it means to be rational or what cultural groups will shape civilization -- are exposed for the way they help sustain metaphysically sanctioned despotic violence" (Klappentext).

22 Oktober 2007

Wissens-Logistik

Das Evangelische Studienwerk Villigst ist nicht besser oder schlechter als sein katholisches Pendant, das Cusanuswerk. Außer vielleicht darin, dass es einen "Claim" hat. Der lautet "Wir bewegen Wissen".
Versteh nur ich das nicht?

Ist Wissen überhaupt beweglich? Wenn ja, woher nehmen die Villigster das Wissen, und wohin transportieren sie es? Und fehlt es dann da, wo's weggenommen ist?

DNS-Profile und Politische Korrektheit

Am 5. Oktober war ein kleiner Artikel in Wired zu lesen über "The inconvenient science of racial DNA profiling". Es ging da um einen Mord, der 2002 in den USA stattfand, bei dem die DNS-Probe ergab, dass derselbe Täter für zwei weitere Morde verantwortlich war. Zeugenaussagen lenkten die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung; die Behörden suchten nach einem jungen weißen Mann, der einen weißen PickUp fuhr. Nach einem weiteren Mord desselben Täters wandten sich die Ermittler an einen Molekularbiologen namens Frudakis, der angab, die 'Rasse', sprich: die genetische Herkunft des Täters aus den DNS-Proben vom Tatort ermitteln zu können. Nachdem der Wissenschaftler die 20 Testfälle erfolgreich gelöst hatte, überließ man ihm die Täter-DNS. Ergebnis seiner Analyse: der Täter ist schwarz. Die Ermittler waren überrascht; aber der Hinweis war schließlich der erste Schritt zur Lösung der Fälle.
Und damit ergibt sich ein bis dahin unbekanntes moralisches Dilemma:
"Once we start talking about predicting racial background from genetics, it's not much of a leap to talking about how people perform based on their DNA -- why they committed that rape or stole that car or scored higher on that IQ test," says Duster. "In this society where race is such a powerful idea, once you head down this path toward predicting race, will the next step be predicting racial behavior?"

Einer der Ermittler, dem die Technik ja half, meint:
"We've been taught that we're all the same, that we bleed the same blood. If you subscribe to the (Frudakis) theory, you're saying we are inherently unequal."

Ja: alle sind ungleich. "Ihr seid alle Individuen", wie Brian sagt. Was ist daran das Schlimme? Sind die Bedenken typisch amerikanische political correctness, oder haben sie recht darin, dass eine der Grundüberzeugungen unserer modernen Gesellschaft in Gefahr ist? Der Knackpunkt ist wohl die zitierte Feststellung von Duster, in der US-amerikanischen Gesellschaft "race is such a powerful idea". Denn für sich genommen ist ja die Ableitung von den Beweisen aus dem Fall (der DNS-Probe, die man am Tatort fand) zur Vorhersage von Augen- und Hautfarbe des Täters etwas deutlich anderes und eindeutigeres als das systematische Verknüpfen von solchen Daten mit Verbrechensdaten für statistische Zwecke. Bei Statistiken muss man immer befürchten, dass zusammengelesene Daten auch in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden.

21 Oktober 2007

Was haben die alten Griechen von ihren Philosophen gehalten?

Matthias Haake hat dies für die hellenistische Zeit und die Stadtstaaten untersucht: Der Philosoph in der Stadt (München : Beck, 2007). Haake geht ganz einfach die Städte durch; das hat auch mit seiner Methode zu tun, der Untersuchung der epigraphischen Zeugnisse am jeweiligen Ort, welche er zur Rekonstruktion einer "ortsspezifischen chronologischen Entwicklung des öffentlichen Diskurses über die einzelnen Philosophenschulen" einsetzt. Das Schlusskapitel bietet dann den Versuch einer Synthese.

26 September 2007

Wittgensteins Kritik an Russell

Wer Wittgenstein für den größten Philosophen des letzten Jahrhunderts hält, dem muss der Titel von Gregory Landinis neuem Buch Wittgenstein's apprenticeship with Russell (Cambridge : Cambridge UP, 2007) ein bisschen schräg vorkommen. Hat nicht Wittgenstein mit seiner Kritik an der Typentheorie Russell tief in die Depression gestürzt (und das Verhältnis zwischen beiden auf den Kopf gestellt)? Landini meint, dass diese Standardinterpretation falsch ist: und stützt sich dafür auf Russells Nachlass. Landini meint außerdem, dass Wittgensteins Grundidee des Zeigens im Tractatus eine Transformation einer Idee von Russell ist.

Das Buch ziert außerdem ein Foto auf dem Umschlag, das mir bislang völlig unbekannt war. Es zeigt Wittgenstein und Russell im Gespräch in einem Kaffeehausgarten? Biergarten?, 1922. Russells Charakterkopf ist gut zu erkennen, Wittgenstein nicht ganz so deutlich. Trotzdem ein schönes Bild.

Warum Craig Venter mit Blade Runner nix anfangen kann

Blade Runner gehört zu den Science-Fiction-Filmen, die in der Philosophie gern für bestimmte Fragen als Illustration herangezogen werden. Was das Menschliche ausmacht, z.B. Die Fragen sind recht unberührt von den verschiedenen Fassungen: der ursprünglichen Kinofassung, dem Director's Cut aus den 90ern und dem Final Cut, der gerade von Ridley Scott fertiggestellt wurde. Wired hat Scott dazu interviewt. Das ist für sich schon interessant genug, finde ich, aber sie haben außerdem noch ein paar prominente Stimmen zum Film eingefangen. Da ist dann auch Craig Venter zitiert, der dafür berüchtigt ist, mit seiner Firma als erster das menschliche Genom 'entschlüsselt' zu haben. Venter gilt nicht unbedingt als moralische Leuchte, denn der Schritt von der Entschlüsselung der Gene zur Eugenik oder zur wirtschaftlichen Verwertung des Wissens scheint klein. Darum finde ich es umso bemerkenswerter, warum er mit Blade Runner nichts anfangen kann:
The movie has an underlying assumption that I just don't relate to: that people want a slave class. As I imagine the potential of engineering the human genome, I think, wouldn't it be nice if we could have 10 times the cognitive capabilities we do have? But people ask me whether I could engineer a stupid person to work as a servant. I've gotten letters from guys in prison asking me to engineer women they could keep in their cell. I don't see us, as a society, doing that.

25 September 2007

Immer glücklich?

Jean Kazez schreibt hier übers Glück, bzw. darüber, was andere Leute über Glück geschrieben haben: David Gilbert (Psychologe), Jonathan Haydt (dito) und Dorrin McMahon (Historiker). Meine Aufmerksamkeit blieb gleich am Anfang hängen:
We have to stumble on happiness, according to Daniel Gilbert, because we are so bad at predicting our future feelings. If you were paralyzed from the neck down, you would be vastly less happy, obviously, right? Studies show otherwise. At first you’d be devastated; but you’d adjust and find new ways of being happy.

Meine Hervorhebung. Die Fähigkeit, sein Glücksempfinden an die Umstände anzupassen (nehmen wir mal an, dass dies empirisch gut bestätigt ist), erklärt natürlich, warum Leute mit wenig Geld ungefähr so glücklich sind wie Leute mit viel Geld, was ich neulich schon mal als ein Faktum beurteilte, das der Ethik nicht wirklich hilft. Der Befund scheint mir hier nur noch deutlicher zu werden. Anders ausgedrückt ist der Utilitarismus damit sozusagen empirisch widerlegt -- mal was neues nach zahllosen Veröffentlichungen, die Fehler in der theoretischen Konzeption welcher Spielart auch immer suchen. Entscheidend ist hier nicht, dass sich die Glückszustände nicht vorhersagen lassen, sondern dass Glück anscheinend nur oberflächlich oder kurzfristig davon abhängt, ob einem Gutes widerfährt oder nicht. Brauchen wir uns also um das Gute nicht zu sorgen? Ganz im Gegenteil: Wenn es nicht die Folgen des Guten für unseren Glückshaushalt sind, dann bleibt ja nur das Gute selbst als Kriterium...

24 September 2007

Faye über Heidegger, 2. Auflage

Dass Emmanuel Faye einen eigenen Blick auf Heidegger und den Nationalsozialismus hat, den er ausführlich in einem Buch Heidegger, l'introduction du nazisme dans la philosophie (2005) anzeigte, darauf habe ich hier schon hingewiesen. Inzwischen ist das Buch in einer zweiten Auflage erschienen, die 200 Seiten stärker ist; im umfangreichen Vorwort dazu geht Faye auch auf die Diskussion nach Erscheinen der ersten Auflage ein. Und führt natürlich neue Textbelege / Argumente an. Außerdem liefert er die Bibliographie der Rezeption dieser ersten Auflage gleich mit, am Ende des Vorworts.
Da das ganze für 9,- € im Taschenbuch erschienen ist, kann man ja mal einen Blick wagen...

18 September 2007

VDMs Reprints (3), mal wieder

Ich habe hier wieder zwei Bände vorliegen, die der VDM-Verlag produziert hat. Ungekennzeichnete Reprints alle beide. Mit "ungekennzeichnet" meine ich, dass man es im Katalog nicht sehen kann. VDM hat auf seinen Seiten keinen eigenen Katalog, sondern verweist auf Amazon. Da sieht man angezeigt eine Neuausgabe von Wissen, Glaube und Ahndung von Jakob Friedrich Fries, für 72,- €. Im Buch steht nur drin:
Dies ist ein Reprint. Ein Buch also, dessen Vorlage ein meist sehr wertvolles und altes Werk ist. An manchen Stellen mögen sich daher Spuren des Gebrauchs finden oder kleine Beschädigungen. Auch ist eine Unschärfe im Schriftbild bei alten Vorlagen normal.

Man muss also schon selbst ein bisschen blättern, um zu erkennen, dass es sich um den Reprint der 2. Auflage der Neuausgabe, 1931 erschienen, handelt. Das Buch ist erstmals 1805 erschienen (und diese Ausgabe antiquarisch für ca. 120,- € zu haben) und online verfügbar: bei Google Books. Es gibt eine moderne Werkausgabe, die in Aalen bei Scientia seit den 60ern erscheint, dort ist das Werk Teil des 3. Bandes der 1. Abteilung. Die Neuausgabe von Leonard Nelson 1905 und deren zweite Auflage von Paul Bernays 1931 sind beide antiquarisch zu haben, letztere für 25,- €. Es gab schon einen Reprint (der Erstausgabe von 1805) bei Vandenhoeck und Ruprecht, der ebenfalls antiquarisch zu haben ist, für wenig Geld. Warum also das Ganze für 72,- €? Natürlich hat VDM auch wieder seine drohende Copyright-Notiz reingesetzt. Das ist besonders prickelnd, weil Paul Bernays als Herausgeber der Ausgabe von 1931 eine Vorbemerkung schrieb, das hier mit reprinted wurde. Bernays starb 1977: sein Vorwort ist nicht urheberrechtsfrei. Wenn VDM sich nicht eine Lizenz besorgt hat (was ich bezweifle, da dies nirgendwo angegeben ist), haben die hier das Copyright verletzt.

Das zweite Buch, was ich hier anzeige, um davor zu warnen, ist die VDM-Ausgabe von Heinrich Rickerts Grundproblemen der Philosophie. Auch das ist ein im Katalog nicht als solcher zu erkennender Reprint, und zwar der Erstausgabe von 1934, die bei Mohr Siebeck erschien. 59,- € will VDM dafür haben; überflüssig zu schreiben, dass die Erstausgabe antiquarisch billiger zu haben ist und dass die Qualität des Reprints sehr schlecht ist (jedenfalls verglichen mit solchen Reprint-Künstlern wie Olms). Warum VDM hier wie die Original-Titelseite weggelassen hat, kann man nur raten: vielleicht, weil es den Verlag noch gibt, der die Erstausgabe anbot.

17 September 2007

Kuby hat keine Ahnung

Wer ist Gabriele Kuby? Eine, die nach eigener Aussage "über zwanzig Jahre lang ... Gott auf den Wegen des Zeitgeistes gesucht und nicht gefunden" hat. Und dann katholisch geworden ist.
Aus Versehen haben wir ein Buch von ihr gekauft: Die Gender Revolution : Relativismus in Aktion. Der Klappentext:
Gender - ein Wort, das kaum jemand kennt, obwohl "Gender Mainstreaming" zum "Leitprinzip" und zur "Querschnittsaufgabe" der Politik geworden ist. Dieser Begriff unterstellt, dass jede sexuelle Orientierung gleichwertig ist und von der Gesellschaft akzeptiert werden muss. Die Gender-Ideologie hat sich hinter dem Rücken der Öffentlichkeit von der EU über die staatlichen institutionen, die Universitäten und Ausbildungseinrichtungen bis an die Basis der Schulen und Kindergärten eingeschlichen. Sie zerstört das Wertefundament unserer Gesellschaft. Die Wurzel dieser Entwicklung ist die Diktatur des Relativismus. Wenn eine Kultur übereinkommt, dass es nicht möglich ist, das Gute und das Wahre zu erkennen, um daran das Handeln ihrer Mitglieder zu orientieren, dann ist der Kulturverfall unausweichlich.

Starker Tobak. Aber dumm. Natürlich stimmen auch alle die Begriffe nicht; Gender Mainstreaming bezeichnet etwas ganz anderes und hat mit der sexuellen Orientierung nix zu tun. Aber das liegt daran, dass auch Gender nur bedingt mit der sexuellen Orientierung zu tun hat. -- Isja egal erstmal, die Thesen von Frau Kuby lassen sich ja auch bewerten, ohne dass sie korrekt formuliert sind. 'Gender Mainstreaming' bedeutet für Frau Kuby; die sexuelle Orientierung anderer (insbesondere die Homosexueller) als erlaubt und die Freiheit der Orientierung als wünschenswert zu betrachten. Da ist sie dagegen.
Für mich sind im Klappentext eine ganze Reihe von No follows drin:

Die Kultur sei übereingekommen, dass es nicht möglich sei, das Gute und Wahre zu erkennen.
Stimmt nicht, darüber wird noch diskutiert. Aber selbst wenn dem so wäre, fragt sich, ob daraus folgt, dass der Kulturverfall unausweichlich sei. Ist, wie mir scheint, auch dann eine fragwürdige Idee, wenn man 'Erkennen' objektivistisch versteht. Die Kultur kann sich doch auf Werte einigen (kontraktualistisches Modell). Und selbst wenn nicht: 'Relativismus' bedeutet ja noch lange nicht, dass man tun darf, was man will.
Wo findet Kuby den 'Relativismus'? In der gegenwärtigen Sexualethik, die Homosexualität erlaubt. Darüber lässt sich trefflich streiten. So würde ich, dass jeder nach seiner Facon selig werden möge, als Ausdruck des 'fundamentalen Wertes' betrachten, dass jeder die Freiheit und das Recht habe zu tun und zu lassen, was er will, sofern er die Freiheit der andern nicht beeinträchtigt und ihre Rechte nicht berührt. Das darf jeder / jede, weil alle Menschen gleich sind, und es ist auch gar nix besonderes. Aber Kuby kommt überhaupt nur darauf, dass dies relativistisch und frevelhaft sei, weil sie implizit eine These vertritt, die weiter verbreitet ist, als man hoffen möchte. Sie ist nämlich gegen Sex als Selbstzweck; Sex diene der Liebe. Homosexualität und alle anderen 'Verirrungen' (Kuby) der sexuellen Orientierung sind für sie offenbar nur vorstellbar als an selbstzweckhaftem Sex interessiert, d.h. sie schließen 'Liebe' aus. Hier ist also noch ein Irrtum, der in seiner sturen Dummheit erstaunlich ist.

Geld und Glück

Man kann häufiger lesen, dass "the correlation between income and happiness" "surprisingly weak" sei. Emilio F. Moran zitiert dafür in seinem Buch People and nature (Malden : Blackwell, 2006, S. 175) eine großangelegte Studie von Ronald Inglehart mit 170.000 Teilnehmern. "Lottery winners and the 100 wealthiest Americans listed in Forbes express only slighter greater happiness than the average American" (ebd.), schreibt Moran.
Mir scheint die Statistik falsch angeführt. Ich bin mir sicher, dass ich, wenn ich mehr Geld hätte (und alle anderen Lebensumstände gleich blieben), durchaus glücklicher wäre! Ob Glück vom Geld abhängt oder wie der Zusammenhang ist, kann man nicht sehen, wenn man verschiedene Leute in verschiedenen Lebensumständen betrachtet. Man muss dieselben Leute in unterschiedlichen Umständen sich ansehen!
Wann macht Geld glücklich? Die Menge des Geldes darf nicht so groß sein, dass man sich darum Sorgen macht oder Zeit darauf verschwendet, es zu verwalten. Dass würde mich auch runterziehen: mich stört schon die Steuererklärung (die in den letzten Jahren doch immer dazu gedient hat, Geld zu bekommen), also sicher auch das Gefühl, mein Geld rationell und ökonomisch anlegen zu müssen. Aber das ändert nichts an der Feststellung, dass die Möglichkeit, mehr Geld auszugeben, mir sehr wünschenswert erscheint. Und ich nehme an, dass dies vielen so geht.

Wenn das so ist, warum wird so gern veröffentlicht, wie wenig Geld und Glück miteinander zu tun hätten? Na, es ist doch eine beruhigende Sache: die Leute mit Geld brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie wissen können, dass es denen ohne Geld genauso gut geht. Die Leute ohne Geld brauchen nicht neidisch zu sein, weil sie wissen können, dass es denen mit auch nicht besser geht.

13 September 2007

Wie haben Hölderlin, Hegel und Schelling Philosophie studiert?

Ich bin ganz begeistert von dem von Michael Franz herausgegebenen Buch "... im Reiche des Wissens cavalieremente"? : Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen (Tübingen : Hölderlin-Gesellschaft & Edition isele, 2005). Eigentlich druckt es nur Dokumente der Philosophie der Zeit, von Tübinger Gelehrten, die dann sorgfältig erläutert werden. Aber so entsteht ein Panorama der geistigen Einflüsse, welche die genannten ausgesetzt waren; und natürlich ist auch die Extrapolation möglich. Abgedruckt sind zudem nicht nur Beispiele philosophischer Lehre (Metaphysik und Moral), sondern auch solche der Geschichte, Naturwissenschaft, Philologie; zudem hat der Herausgeber einen Aufsatz über einen der Tübinger Dozenten, Johann Friedrich Flatt, hinzugefügt. Tolles Buch, ich ziehe meinen Hut vor Herrn Franz!

11 September 2007

Metaphern in der Philosophie

Ralph Konersmann, der Kieler Prof., hat für die WBG (Darmstadt 2007) ein Wörterbuch der philosophischen Metaphern herausgegeben. Das Wörterbuch imformiert über "Titelmetaphern", wie Konersmann sie nennt. Damit meint er: Bildbereiche, die auf einen bestimmenden Begriff gemacht werden können. Der Eintrag "Körper, Organismus" von Susanne Lüdemann, handelt z.B. demnach von den Bildspenden der Vorstellung des beseelten (menschlichen) Körpers, der Eintrag "Lesen" von Olaf Breidbach von dem Prozess, "in Schriftform niedergelegte Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten", wo von der Kultur als Text bis zur Natur als Buch alles drin ist. Die Artikel haben Aufsatzlänge; das Wörterbuch beschränkt sich darum auf eine gewisse Zahl von Einträgen und wirkt etwas eklektisch. Trotzdem ist es, natürlich, eine Fundgrube, in der man schnell Überraschendes findet. Es gibt ein umfangreiches Metaphernregister, welches aufdeckt, wo vielleicht Metaphern erwähnt sind, die nicht mit eigenen Artikeln bedacht sind. "Schiffbruch" z.B. ist so ein Fall: kein eigener Artikel, aber 6 Einträge im Register.
Die Artikel sind historisch aufgebaut, entwickeln also eine Metapherngeschichte, die zugleich Geistes- und Ideengeschichte ist. Leider mit 99,- € etwas teuer, das ganze, eben ein typisches Bibliotheksbuch.

04 September 2007

Analytische Philosophie und Literatur

Analytische Philosophie hat zur Literatur nicht viel zu sagen. Die wichtigsten Fragen waren bislang drei:
- Worauf referiert literarisches Sprechen? (oder: Was ist Fiktion?) Das hat wohl mit Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung zu tun, die literarischem Sprechen nicht wirklich beikommt.

- Wie kommt es, dass Literatur Erkenntnis vermittelt, obwohl sie ja nicht "wahr" in Freges Sinn ist?

- Das Hekuba-Problem: Wie kommt es, dass Leser Anteil nehmen an dem, was sie lesen, obwohl sie wissen, dass es nicht wahr (nicht "wirklich") ist? ("Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, dass er um sie soll weinen?" fragt Hamlet, als er die Wirkung des Schauspiels sieht.)

Wie man sieht, gehen alle drei Fragen von demselben aus: dass Analytische Philosophie mit fiktionalem / literarischem Sprechen nichts anfangen kann. Das ist auch in jeder Theorie der Bedeutung, die ich kenne, bisher ein unbeackertes Thema.

Ist natürlich schön, wenn da mal wieder was neues erscheint, was ein bisschen Erkenntnisgewinn verspricht, wie der Sammelband A sense of the world : essays on fiction, narrative and knowledge, hg. von John Gibson u.a. (New York : Routledge, 2007). Und wenn da auch ein paar Leute mitschreiben, die wirklich was von Literatur verstehen, wie Wolfgang Iser. (Wusste gar nicht, dass der gestorben ist.) Oder die sich schon intelligent über Kunst geäußert haben, wie Catherine Z. Elgin.

[Update 14.9.] Bei Continuum ist soeben (2007) ein neuer Überblick erschienen, Aesthetics and literature, von David Davies, der allen genannten Fragen nachgeht.
[Udate 23.10.] A, P. Martin und Avrum Stoll haben bei Rowman & Littlefield (Lanham u.a., 2007) ein Buch mit dem schönen Titel Much ado about nonexistence : fiction and reference geschrieben. Der Klappentext lobt bereits, hier habe man das klarste und am besten entwickelte Buch übers Thema; Fiktion würde als Institution behandelt und "fictional facts as institutional facts". Man wird das Buch lesen müssen, um hier die Bedeutung von "institution" nachzuvollziehen.

01 September 2007

Feministische Philosophie nachschlagen

Dem neuen Historical Dictionary of Feminist Philosophy (Lanham : Scarecrow Press, 2006) von Catherine Villanueva Gardner entnehme ich, dass es Pythagoreerinnen gab, namens Themistoklea, Theano, Arignote, Myia und Damo. Sucht man diese Namen im Alphabet, ist allerdings nix zu sehen. Sucht man "Phytagoreans" auf, wird man auf "Ancient Greek Philosophy" verwiesen: wo von denen auch nix zu lesen ist. Hhm. Ist das jetzt meine männliche Fixierung auf eindeutige Resultate?
Da das Wörterbuch sehr eklektisch vorgeht, wäre ein Inhaltsverzeichnis ganz nützlich gewesen, zum raschen Überblick. Ein Register gibt es auch nicht, dafür aber ausführliche Literaturverweise. Die Einführung gibt einen Überblick über die wichtigsten Strömungen der letzten 50 Jahre; beim Überfliegen finde ich wieder einmal, dass Irigarays Philosophie sehr überbewertet wird.
Das Vorwort schließt: "Feminist philosophers .... now also ask what feminist philosophy can offer philosophy itself. In this way, feminist philosophy can be seeh as not simply destructive, or even reconstructive, but as the next level in the evolution of philosophy." Na dann.

28 August 2007

Gedankenexperimente, haufenweise

Hab mein kleines Lexikon, das auf meiner Festplatte still weiterwuchs, wieder auf die Homepage geschaufelt: hier.

24 August 2007

Paradoxes Recht

Michael Clarks Paradoxes from A to Z sind wirklich eine nette Lektüre. Heute habe ich darin von einer Variante des Euathlus-Paradox aus dem wirklichen Leben gelesen. Euathlus ist ein Schüler des Sophisten Protagoras, der bei ihm Rhetorik lernt für den Auftritt vor Gericht. Man vereinbart ein Honorar für den Unterricht, dass sich am Erfolg bemisst: Euathlus soll erst zahlen, wenn er seinen ersten Fall gewonnen hat. Doch nach dem Unterricht hat Euathlus keine Lust, Anwalt zu werden, und lässt es bleiben. Nach einiger Zeit reißt Protagoras der Geduldsfaden und er verklagt Euathlus. Dabei argumentiert er: Wenn das Gericht für Protagoras entscheidet, muss Euathlus zahlen, denn das ist ja der Inhalt des Falls. Wenn das Gericht für Euathlus entscheidet, muss er auch zahlen, denn dann hat er ja seinen ersten Fall gewonnen. Euathlus argumentiert natürlich umgekehrt.
Clark berichtet (nach der Darstellung von Peter Suber, die hier online ist) vom us-amerikanischen Verfahren State v. Jones von 1946 in Ohio, in dem der Angeklagte beschuldigt wurde, illegale Abtreibungen vorgenommen zu haben. Für eine dieser Abtreibung gab es nur einen Beweis, nämlich die Zeugenaussage der Frau, an welcher die Abtreibung angeblich vorgenommen wurde. Nach dem Recht von Ohio zu dieser Zeit wäre die Frau, hätte das Verbrechen der Abtreibung stattgefunden, ein krimineller Komplize des Arztes gewesen, und die Zeugenaussage von Komplizen galt vor Gericht nicht als Beweis. Der Verteidiger kann also argumentieren, dass entweder Jones unschuldig ist (dann ist die Zeugenaussage der Frau falsch), oder die Zeugenaussage ist wahr, dann darf sie nicht verwendet werden, und dann kann Jones nicht verurteilt werden aus Mangel an Beweisen. Die Anklage argumentiert natürlich umgekehrt.
Weil's sich hier um einen echten Fall handelt, gibt's auch eine echte Entscheidung. Die ging aus von der Annahme, dass jemand unschuldig ist, bis er überführt ist. Daher musste die Frau als unschuldig betrachtet werden und ihre Zeugenaussage konnte gehört werden. Jones wurde verurteilt.

22 August 2007

Ontologie für die Tonne

An dieser Stelle habe ich schon mal auf ein anderes Buch hingewiesen, dass sich philosophisch mit dem Thema Müll auseinandersetzt, eigentlich aber eine Theorie der Gesellschaft vorstellte. Ähnliches unternimmt Greg Kennedy in seinem Buch An Ontology of Trash : the disposable and its problematic nature (Albany : SUNY press, 2007):
The ontology of trash thus works out to be the history of human embodied being-in-the-world that takes seriously the physiological changes wrought by technology on our embodiement. (S. XVIII)

Nach Kennedy gibt es einen Unterschied zwischen Waste und Trash. "Waste, we learn, stinks of the body." Kennedy scheint mit Irrgang einer Meinung darin zu sein, dass Technik dem Menschlichen schadet: "Chapter five ... shows how the technological manner of taking care of things, as our modern mode of being, signifies our failure to be truly human. ... The phenomenon of trash exists as long as we fail to exist as humans."

21 August 2007

Nützt es dem Volk, betrogen zu werden?

Fragte die Preußische Akademie der Wissenschaften 1777, auf dass bis 1780 preiswürdige Antworten einträfen. Hans Adler erläutert Hintergründe und Umfeld in seiner Einleitung in die zweibändige Dokumentation der Antworten, die jüngst bei Frommann-Holzboog erschienen ist. Die beiden Wälzer sind nicht ganz billig, aber eine tolle Quelle: immerhin 42 Antworten gingen ein, und davon sind 38 handschriftlich noch erhalten und die beiden Gewinner gedruckt.
Da die Frage auf Anweisung Friedrich des Zweiten gestellt wurde, interessiert natürlich auch, ob er wohl ein Händchen in der Auswahl der Gewinner hatte (nein) -- und was die Gewinner zur Frage meinen. Die lautet übrigens vollständig "Nützt es dem Volk, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?"
Die Antworten können wohl nur als Regierungshilfen verstanden werden, denn das Konzept der Meinungsführerschaft gab es damals noch nicht, und so ist die einzige Person, die das Volk führt, Friedrich Zwo selbst. Der hatte allerdings schon eine Meinung zu dem Thema, wie Adler kenntnisreich ausführt: Friedrich II. sah das Volk als einen von Vorurteilen bestimmten Mob, mit dem "nichts zu erreichen" sei, wie er an d'Alembert schrieb; dabei dachte er daran, ob es wohl ohne Religion gehe. "Friedrich hielt den Volksbetrug für legitim, weil unumgänglich" (S. XXXII), fasst Adler zusammen. D'Alembert widersprach: die Vernunft würde den Aberglauben überwinden. Scheint wie eine Diskussion zwischen optimistischer und pessimistischer Aufklärung, bzw. einer Aufklärung für alle und einer für die Eliten.
Da Friedrich II. seine Antwort schon hatte, hatte er auch kein großes Interessse an den beiden ausgezeichneten Antworten, sie stammen von Rudolf Zacharias Becker, der "Nein" sagt, und Friedrich Adolph Maximilian Gustav von Castillon (genannt Frédéric de Castillon). Offenbar hat die Akademie schon vor der Lektüre der eingesandten Beiträge entschieden, den Preis zu teilen für einen Beitrag, der die Frage bejaht, und einen, der sie verneint, was ihr den Vorwurf des Opportunismus einbrachte.
Einer der Juroren, teilt Adler mit, machte die Beobachtung, dass diejenigen Einsender, die von abstrakten Idealen wie Freiheit, Vollkommenheit etc. ausgegangen wären, die Frage verneinten, während diejenigen, die (empirisch) vom Volk in seiner "Unvollkommenheit" ausgingen, die Frage bejahten. (Vermultlich lässt sich der Zusammenhang auch umgekehrt darstellen: wer bejahen will, muss ja von einer Basis ausgehen, welche dieses Ergebnis zulässt.)

Ethik als Gebrauchsanweisung

Man sollte einem Buch mehr als fünf Minuten widmen... Aber wenn der Autor schon Irrgang heißt...
Bernhard Irrgang lässt das Thema Technik nicht los. Darum hat er jetzt eine Hermeneutische Ethik (Titel) als "Pragmatisch-ethische Orientierung in technologischen Gesellschaften" (Untertitel) in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft veröffentlicht. Im Vorwort Einleitung schreibt er:
Angesichts überbordender Angebote immer neuer Formen von Technik, die selbstverständlich jedermann haben muss, der "in" sein will, stellt sich die Frage, ob sich der allseits verbreitete Grundwert des Cool-Seins tatsächlich als eine Grundform der humanen Selbsterhaltung des Techniknutzers gegenüber modernern Technik erweisen kann. ... Technik produziert Unsicherheit und Nichtwissen. Der traditionelle Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen war wissenschaftlich. Und Ethik sollte, wie Philosophie, Wissenschaft sein.

Was bedeutet das? Die sprachliche Gestaltung des ersten Satzes ist schon interessant. Sowohl die negative Färbung von "überbordend" als auch die der "immer" neuen Formen deutet auf ein Gefühl der Bedrohung: der Autor fürchtet, in der Technik unterzugehen. Er missbilligt, natürlich, das Cool-Sein. Hier wie andernorts steht nicht, was Irrgang damit meint, und ich kann das auch nicht erkennen, weil ich keinen rechten Zusammenhang sehe zwischen einem Habitus (wie "Coolsein") und einer "Grundform der Selbsterhaltung". Beachtenswert finde ich Irrgangs Zusammenziehung "humane Selbsterhaltung", welche auch so verstanden kann, dass nicht die Existenz, sondern das Humanum gefährdet ist. Das würde natürlich gut zum Bedrohungsgefühl passen. Dann bedeutet der ganze Satz: Technik bringt ihre Anhänger dazu, das Menschliche aufzugeben.
Der zweite Satz sagt, dass Ethik hilft: sie ist der wissenschaftliche Umgang mit den Folgen der Technik: dem Nichtwissen. (Für Philosophen ist Technik, die Nichtwissen sogar produziert, so dass es mehr davon gibt als vorher, eigentlich was Gutes: denn Nichtwissen ist ja der Ausgangspunkt der Selbsterkenntnis!)

Das Buch, schreibt Irrgang, "reflektiert weniger die Ethik, sondern die Anwendungsbedingungen und Einbettungsfunktionen ethischen Argumentierens und Entscheidens. Diese sind heute überwiegend technisch-ökonomischer Natur." Ach so. Die Anwendungsbedingungen sind technisch-ökonomischer Natur. Ich nehme an, dass es da auch eine Achse des Bösen zwischen Technik und Ökonomie gibt, dass technischer und ökonomischer Habitus sich ähnlich sind.

Vielleicht sollte ich mal umblättern, um zu sehen, was auf der nächsten Seite steht.

20 August 2007

Schreibers Schmuck

Fremdsprachenbeherrschung: lässt die Leser vor Ehrfurcht erstarren. Nicolas Rescher beginnt sein Buch Conditionals (MIT Press 2007) mit einem "german proverb" und Übersetzung:

Der Mann der das Wenn und das Aber erdacht, Hätt' sicher das Häckchen zu Gold schon gemacht.

Who if and but devised of old, would make mere straw turn into gold.


Was für ein "Häckchen" macht der Mann zu Gold? "Meinten Sie Häkchen?" (Google)
Im Röhrich steht's zum Stichwort "wenn":

Das viele (ewige) Wenn und Aber!: Immer diese Einwände und Zweifel! Gottfr. Aug. Bürger gebrauchte diese Wendung in seiner Ballade ›Kaiser und Abt‹ mehrmals (Strophe 30):

»Ha«, lachte der Kaiser, »vortrefflicher Haber!
Ihr futtert die Pferde mit Wenn und mit Aber.
Der Mann, der das Wenn und das Aber erdacht,
Hat sicher aus Häckerling Gold schon gemacht«.
[Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten: wenn, S. 6972]


Und was ist Häckerling? Dasselbe wie "Häcksel": zum Verfüttern kleingeschnittenes Stroh. Die "Übersetzung" stimmt also.

18 August 2007

Das Handwerker-Paradox

In Michael Clarks Paradoxes A-Z, 2. Auflage, London u.a. : Routledge, 2007, gibts 10 neue Paradoxa, darunter das "Cable Guy Paradox", was ich hier mal mit "Handwerker-Paradox" wiedergebe. Clark hat das aus einem Aufsatz von Alan Hájek, der in Analysis 65 (2005), erschien. Und es geht so:
Der Handwerker kommt zwischen 8 Uhr und 16 Uhr. Sie können wählen, ob sie darauf setzen, dass er am Nachmittag oder am Vormittag kommt: wenn er in Ihren 4 Stunden kommt, bekommen Sie 10 €, kommt er in den anderen, kriege ich von Ihnen 10 €. Vor 8 Uhr morgens gibt es keinen Grund, eines der beiden 4-Stunden-Intervalle vorzuziehen. Aber danach, also wenn man sich im ersten Zeitintervall schon befindet, würde man auf das zweite setzen, weil das zweite ja dann länger ist. Warum auf diesen Zeitpunkt warten und nicht schon vorher auf das zweite Intervall setzen?
Hajek, erläutert Clark, beschreibt das Paradox mithilfe eines Prinzips, das heißt: 'Vermeide sichere Enttäuschung!' Nach diesem Prinzip sollte man sich nur dann für eine Möglichkeit entscheiden, wenn man sicher sein kann, dass man nicht in Zukunft Grund hätte, die andere Möglichkeit zu bevorzugen, wenn man rational ist. Und das ist der Fall in diesem Szenario, wenn man auf den Vormittag setzt, für die ganze Zeitspanne, in der der Handwerker noch nicht gekommen ist. Gibt also einen Widerspruch zwischen diesem Prinzip und der Meinung, dass es doch egal sein muss, worauf man setzt, da beides gleich wahrscheinlich ist!

Clarks Buch enthält noch eine Reihe anderer Paradoxa, die nicht in der Sammlung von Sainsbury (Paradoxien, Reclam) enthalten sind und mir neu waren: lesenswert.

17 August 2007

Können wir tun, was wir wollen?

Für Kant war die Sache klar: was einem die Vernunft sagt, tut man. Dazwischen gibt es keine Instanz, die wirken könnte; und dass einem die Vernunft etwas sagt, ist eine hinreichende Motivation. Aber schon die alten Griechen wussten: manchmal kommt doch etwas dazwischen. Das als Richtig erkannte wird trotzdem nicht getan. Die Motivationslücke nannten sie "Akrasie", was gern mit "Willensschwäche" übersetzt wird. Jetzt liegt mit Akrasia in Greek Philosophy : from Socrates to Plotinus, hg. von Christopher Bobonich und Pierre Destrée. - Leiden : Brill, 2007 (Philosophia Antiqua , 106) ein recht umfassender Sammelband zum Thema vor, der die Leser auf die Höhe der Forschung bringt. Die Beiträge entstanden für einen Kongress in Löwen 2003 und sind gut lesbar: auch für Leute geschrieben, die nicht des Griechischen mächtig sind.

Ethische Beispiele

Esther Ramharter, österreichische Mathematikerin und Philosophin, hat ein Buch über den Gebrauch von Beispielen in der Ethik geschrieben: Zum Beispiel Mord : wie EthikerInnen mit Beispielen überzeugen (Baden (Österreich) : Orpheus, 2005). Ramharters Theoriedurchgang beginnt mit Aristoteles und ist über Hume und Kant schnell bei Wittgenstein angelangt: mäßige Aufmerksamkeit gilt anderen Verfassern wie z. B. Martha Nussbaum. Ramharter verwendet den Begriff Beispiel manchmal deckungsgleich mit "Gedankenexperiment", manchmal nicht: denn ein Gegenbeispiel kann natürlich auch ein faktisches sein für eine Theorie. Ihre Beobachtungen lassen sich daher auch nur manchmal auf Gedankenexperimente anwenden, und mich hätte natürlich der unterschiedliche epistemische Status dieser beiden Kategorien (faktisch / fiktiv) interessiert.

16 August 2007

Moralische Probleme kreativ angehen

oder: die Schwierigkeit von ethischen Gedankenexperimenten.

Kennen Sie das Heinz-Dilemma vom Psychologen Lawrence Kohlberg?(1)
A woman was near death from cancer. One drug might save her, a form of radium that a druggist in the same town discovered. The druggist was charging $2000, ten times what the drug cost him to make. The sick woman's husband, Heinz, went to everyone he knew to borrow the money, but he could only get together about half of what it cost. He told the druggist that his wife was dying and asked him to sell it cheaper or let him pay later. But the druggist said "no".

Anthony Weston wählt dies in seinem Buch Creative problem solving in ethics (Oxford UP, 2007) als Beispiel dafür, wie ein Szenario zur irrigen Annahme führen kann, es gäbe ja nur zwei Möglichkeiten (entweder Heinz klaut die Medizin oder er sieht seiner Frau beim Sterben zu). Das ist sinnvoll, wenn das Szenario eingesetzt wird, um die moralischen Intuitionen von Kindern zu prüfen (was die Psychologen damit tun). Aber nicht als Beispiel für echtes moralisches Überlegen. Stattdessen müsse man sich fragen, was es denn sonst noch für Möglichkeiten gäbe.
Er schlägt vor: Heinz könnte dem Apotheker etwas anderes Wertvolles im Austausch anbieten, z.B. eine Dienstleistung, die er vollbringen kann. Oder, da die Medizin ja gerade erst entwickelt wurde, könnte Heinz' Frau sich als Testperson zur Verfügung stellen (und dafür sogar vom Apotheker bezahlt werden). Oder Heinz' Frau könnte in die Apotheke einbrechen, sich entdecken lassen und auf ihre Verhaftung warten: der Staat müsse schließlich Gefängnisinsassen medizinisch versorgen. Oder er wendet sich an seine Versicherung. Oder an seine Familie und Freunde.
Hhm. Weston schlägt Möglichkeiten aus dem wirklichen Leben vor: die wir hätten. Aber das Szenario ist ja nicht aus dem wirklichen Leben. Das Szenario ist entwickelt, um eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zuzulassen. Es eignet sich nicht als Beispiel. Es steht z.B. explizit drin, dass Heinz kein anderes Geld auftreiben konnte: schließt Familie, Freunde, Versicherung aus. Auch das Verhalten des Apothekers wird eigentlich nur dann plausibel, wenn man ihm Böswilligkeit unterstellt. Also wird er auch nicht eine andere Leistung von Heinz haben wollen. Und dass der Staat den Apotheker dazu zwingt, seine Medizin abzugeben: Tja, dann müsste das doch eine Medizin sein, die allgemein anerkannt ist, und nicht eine, die ein einziger Apotheker anzubieten hat.
Also: was macht Westons Buch? Es ist kein Ethik-Buch für den Umgang mit typischen Gedankenexperimenten aus der Literatur, weil es zu zeigen versucht, wie man am besten beim Nachdenken auf neue Ideen kommt, wie man also mit Situationen umgeht, die man dilemmatisch findet.
Würde mich interessieren, was die Moralische Entwicklungsforschung, welche derartige Dilemmata ja für den Unterricht konstruiert, damit anfängt...



(1) Quelle: Colby, A., Kohlberg, L. et al., The Measurement of Moral Judgement, Vol 2, Cambridge University Press, 1987.

Matrix analysiert

In der Philosophie ist es wie überall: man versteht die Phänomene nicht unbedingt besser, wenn man mehr Bücher darüber liest. Insofern ist dieses Blog ein paradoxes Unterfangen. Auf der anderen Seite lässt sich aber die Sammel- und Findelust voll ausleben, die mich auch dazu bringt, ein niederländisches Buch über den Film Die Matrix hier zu notieren: Bart Cusveller, Maarten Verkerk, Marc de Vries: De Matrix Code : Sciencefictionfilms als spiegel van de technologische cultuur. - Amsterdam : Buijten & Schipperheijn, 2007. Ich muss mich immer zusammenreißen, das Gesagte nicht schon deswegen niedlich zu finden, bloß weil es so niedlich klingt:
Scienceficion is een bijzonder geschikt genre om een aantrekkelijke en spannende film te maken. Maar in deze films schuilt ook een diepe waarheid over de mens: ons leven wordt gekenmerkt door een technische cultuur. Techniek wordt in steeds meer opzichten van belang en roept tegelijk steeds meer vragen op over de invloed van de techniek op ons bestaan.

Dass man sich diesen Fragen aus christlicher Perspektive widmet, ist wohl nicht verwunderlich angesichts der Erlösungsmythologie, die in der Matrix-Trilogie, in Star Wars etc. steckt (und natürlich auch in Harry Potter: aber die beschränken sich wirklich auf Science fiction).

15 August 2007

Grundfragen der Menschheit

Bin gerade wieder auf ein ulkiges Büchlein gestoßen. Es trägt den Titel Reflexive Water : the basic concerns of mankind; der Titel klingt ein bisschen nach Lebenshilfe (und Golden Shore): aber es ist etwas ganz anderes. Da hat es ein holländischer Philosoph namens Fons Elders fertiggebracht, Anfang der siebziger Jahre ein paar -- prominente -- Philosophen aus unterschiedlichen Lagern paarweise an einen Tisch zu holen und diskutieren zu lassen. Alfred Jules Ayer, der Erbe der Neopositivisten, sitzt Arne Naess gegenüber, der den Neopositivismus zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich gelassen hatte, und sie reden (natürlich) über Erkenntnis und Wissen. Karl Popper und John Eccles beschäftigen sich mit Freiheit und Wissenschaftstheorie, Chomsky und Foucault mit Gerechtigkeit und Macht, Kolakowski und Lefèbvre mit "Evolution oder Revolution".
Das Buch erschien bei Souvenir Press, London 1974. Es enthält auch Bilder der Diskussionen: da schaut es schon lustig aus, wenn zwei ergraute Dinosaurier wie Eccles und Popper an einem Tisch sitzen mit einem langhaarigen Jungspund dazwischen, der die Fragen stellt. Auch die Texte sind prima: sind wiedergegeben als Transkripte und bewahren daher den spontanen Ton der Gespräche.
Auf den Fotos sind auch Filmkameras zu sehen, also existieren womöglich irgendwo noch Filmaufnahmen...

14 August 2007

Sätze gleicher Form

1st version:
Chico: I would kill anybody for sixpence!
Groucho: Even me?
Chico: You? You are my friend, my brother! I would kill you for nothing!

2nd version:
Chico: I would shave anybody for sixpence!
Groucho: Even me?
Chico: You? You are my friend, my brother! I would shave you for nothing!


Gefunden in:
Stefan Themerson: Logic, labels, and flesh. - London : Gaberboccus, 1974, S. 143

13 August 2007

Adornos Rattenkönig

Gerade habe ich Adornos Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie vorliegen. Die hat er im Wintersemester 1957/58 in Frankfurt gehalten, und der Frankfurter Verlag Junius-Drucke hat sie 1958 herausgebracht. Bei einem kurzen Blick in die erste Vorlesung, in der Adorno natürlich entwickelt, wie schwierig die Materie ist, die "Erkenntnis der Erkenntnis" bestimmen zu wollen, bleibe ich an einer seltsamen Formulierung hängen; Adorno schreibt nämlich genau, dass man "in einen ganzen Rattenkönig von Schwierigkeiten" gerate.

Rattenkönig?

Druckfehler? Aber wenn man den "Rattenkönig von Schwierigkeiten" googelt, dann gerät man immerhin an ein pdf, Erich Wollenberg: Münchhausen schreibt ein Stalin-Buch, in der dieselbe Formulierung verwendet wird.
Über die Wikipedia habe ich außerdem gelernt, dass es "Rattenkönige" gibt: so eine Art Gordischer Knoten der Ratten. Aber wo kommt die Redewendung her (falls es eine ist)?

10 August 2007

Χάμπερμας

Wer ist der?

Hin und wieder habe ich griechische Bücher auf dem Tisch. Da ich mal altgriechisch gelernt habe, ist meist leicht zu erkennen, worums geht. Bei diesem Buch über Habermas (der ists) und die Neoaristoteliker fand ich aber im Register einige nicht ganz leicht zu erkennende Namen. Wer ist:

Ότφριντ Χέφφε ?

Ντέιβιντ Χιουμ ?

Τζων Λ Ώστιν ?

Χέρμπερτ Σνέντελμπαχ ?

Φρήντριχ Νίτσε ?

09 August 2007

Nietzsche rechts oder links?

Dass die Rechten Nietzsche in den Dienst genommen haben, auch Dank willfähriger Vorbereitung seiner Schwester, scheint ihn als politischen Philosophen von vornherein außer Dienst zu stellen. Aber die Linken müssten doch eigentlich für den Umstürzer aller Werte und pragmatischen Philosophen auch was übrig haben? Wieviel das ist, hat sich die sächsische Rosa Luxemburg Stiftung auf einer Tagung 2004 herauszufinden bemüht, die nun im 19. Band der Schriftenreihe Diskurs (2006) dokumentiert ist. Anlass war der 50. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Lukacz' Buch "Die Zerstörung der Vernunft": ein kritischer Titel, der klingt, als hätte die Linke die Vernunft für sich gepachtet. Neben der Wirkungsgeschichte von Lukacz' Buch geht es in den Beiträgen auch um die Wiederentdeckung Nietzsches in der DDR-Philosophie der 80er Jahre (Volker Caysa) oder um Marx und Nietzsche als Europäer im Vergleich.

07 August 2007

Beiläufig gesprochen ...

die Gegenstände sind farblos: einer meiner Lieblingssätze aus dem Tractatus (Satz 2.0231), weil er für sich genommen zwar aphoristischen Charakter hat, aber auch, so offensichtlich, ganz falsch ist. (Nicht für sich genommen, ist er zweifellos richtig, denn dann muss man ja berücksichtigen, was Wittgenstein im Tractatus "Gegenstand" nennt.)
Weil also die Gegenstände nicht farblos und weil auch Farbe nicht gegenstandslos ist, lohnt sich ein Blick in den Sammelband Farben : Betrachtungen aus Philosophie und Naturwissenschaften, den Jakob Steinbrenner und Stefan Glasauer bei Suhrkamp 2007 herausgegeben haben. Der Band gibt nicht nur ein paar Anregungen im Umgang mit den "sekundären Qualitäten" in Philosophie und Hirnforschung (und natürlich den Funktionalismus, man denke an Frank Jacksons Mary), sondern wirft auch ein paar Blicke in die Geschichte. Besonders interessant finde ich Olaf Müllers Untersuchung der Methoden Goethes in seiner Farbenlehre, die bekanntlich eine vehemente Newton-Kritik enthält. Müller meint, Goethe habe "in Newtons methodologischen Ansprüchen Mängel entdeckt, die heutzutage jedem Kenner der naturwissenschaftlichen Methode unangenehm ins Auge springen dürften. (...) Anders als oft behauptet wird, wusste Goethe sehr genau, wie empirische Wissenschaft funktioniert und was sie leistet; er hat das tiefer durchdacht als Newton." (S. 65) Diese "Ehrenrettung" könnte auch Germanisten interessieren, zumal wenn sie aus der Feder eines so gut verständlich schreibenden Wissenschaftstheoretikers und Philosophen stammt wie Müller!

06 August 2007

Hobbes' Leviathan in einer kritischen Ausgabe

... ist zwar schon 2003 bei Thoemmes erschienen, aber erst jetzt auf meinem Schreibtisch gelandet: seltsame Wege, die die Bücher gehen. Das zweibändige Werk wurde von G. A. J. Rogers und Karl Schuhmann besorgt; letzterer verstarb während der Abschlussarbeiten an der Ausgabe.
Der erste Band enthält den Editionsbericht mit einer ausführlichen Beschreibung der Textzeugen, der zweite Band den Text nach der Head-Edition (wiewohl die Herausgeber Argumente dafür anführen, dass die späteren Ausgaben ("Bear-Edition" und "Ornaments-Edition") als überlegene Textzeugen zu betrachten seien) und Textvarianten. Bewunderswert, dass diese Fundgrube der Gelehrsamkeit neben der Hardcover-Ausgabe für 200,- € auch neuerdings in einer studentenkompatiblen Softcover-Ausgabe (in einem Band) für 19,90 Pfund zu haben ist!

23 Juli 2007

Erkenntnistheorie der Detektion

In der Edition Suhrkamp gab es mal (1982) ein nettes Bändchen des Semiotikers Thomas A. Sebeok über die Verwandtschaft zwischen einer pragmatischen Semiotik à la Peirce und der Arbeit des Detektivs: Du kennst meine Methode : Sherlock Holmes und Charles Sanders Peirce (es NF 121). Diese Verbindung muss eine gewisse Attraktivität haben: Renato Giovannoli hat nun eine Filosofia del racconto poliziesco, erschienen 2007 in Mailand bei Medusa veröffentlicht. Der Titel: "Elementare, Wittgenstein!" Kenner der Krimiklassiker von Doyle bis Hammett werden daran ihre Freude haben -- sofern sie sich für Logik und Erkenntnistheorie interessieren...

22 Juli 2007

Manchmal staune ich

über die Gelehrsamkeit anderer Leute, die unmögliche Bücher gebiert wie das Folgende: Stuart Clark: Vanities of the eye : vision in early modern European culture. - Oxford : OUP, 2007. Clark beschäftigt sich mit der frühen Neuzeit und wie dort ein Riss entstand zwischen den Menschen und dem, was sie wahrnahmen. "What were supposed to be ... 'socially agreed descriptions of an intelligible world' came to be marked by profound disagreement". "For between the fifteenth and seventeenth centuries European visual culture suffered some major and unprecedented shocks to its self-confidence": die Entdeckung der Zentralperspektive in der Malerei, die Reformation, die Wiedergeburt des Skeptizismus. Clark breitet also ein Panorama aus, das die Geschichte des Sehens als Kulturgeschichte schreibt: faszinierend.

19 Juli 2007

Neues zur Ideengeschichte

Im Beck-Verlag gibt es eine Zeitschrift, deren erstes Jahr jetzt um ist: die Zeitschrift für Ideengeschichte. Sie ist sicher ein Wagnis, weil sie ihre Leser auch unter allgemein historisch Interessierten sucht, und weil sie einen Geruch des Archivs mitbringt, der sich den beteiligten Institutionen verdankt: dem Literaturarchiv in Marbach, der Stiftung Weimarer Klassik, der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Wolfenbüttel. Die Ideen, um die es geht, kommen etwas weniger staubig daher, jedenfalls in den Formulierungen. So hieß das erste Heft "Alte Hüte": darin ging's allerdings nicht um die Idee / Metapher / Begriff "Alter Hut": was mich durchaus interessiert hätte. Das ist vielleicht eine Anregung für die Folgehefte: nämlich den Titel auch ideengeschichtlich zu durchleuchten.
Ein paar Beiträge sind auch online zu lesen.

Jüngst bin ich auf eine sehr lohnende Online-Quelle zum Thema Ideengeschichte gestoßen, nämlich das Dictionary of the History of Ideas. Das gab's mal gedruckt in den siebzigern, und weil es schon seit Jahren vergriffen ist, haben die Rechteinhaber es für die Digitalisierung freigegeben. Schade, dass man die Abbildungen nicht einschließen durfte! Jedenfalls eine tolle frei zugängliche Quelle!

18 Juli 2007

Geschichte des solipsistischen Denkens

Solipsismus ist keine ernstzunehmende Theorie, sondern eine Befürchtung: die schon viele Philosophen zu respektablen Ergebnissen geführt hat, meint Anthony D. Nuttall in seiner Darstellung mit dem unverdächtigen Titel A common sky : philosophy and the literary imagination (Berkeley : Univ. of Calif. Press, 1974). Nuttall folgt den Ergebnissen bis zu ihrem Niederschlag in der englischen Literatur, z.B. im Tristram Shandy, Logikern bekannt als das unendliche Buch: da Shandy in einem Jahr einen Tag seines Lebens beschreiben will, wird er nie fertig, es sei denn, er hat unendlich viel Zeit. Solipsismus ist auch eine Form der Unendlichkeit: die Unfähigkeit, die Ränder des eigenen Selbst zu sehen.

10 Juli 2007

05 Juli 2007

Warum Präferenzerfüllung ein problematisches Maß ist

Zum ersten Mal bin ich der Theorie bei R. M. Hare begegnet. Der möchte die Moralität einer Handlung am Maß der Präferenzerfüllung der Betroffenen messen, nicht wie der klassische Utilitarismus an den erwarteten Glückszuständen. Das ist natürlich eine Präzisierung, denn die über die Präferenzen können Personen Auskunft geben, über die vermutliche Stärke des empfundenen Glücks wohl nicht.
Allerdings lese ich in der Einleitung von Dan Egonssons Preference and Information (Aldershot : Ashgate, 2007) eine interessante Beobachtung: nämlich das Präferenzerfüllung nicht unbedingt glücklich macht. Stattdessen tritt es häufig ein, dass Leute, deren Ziele gerade erreicht sind, über Leere klagen und deprimiert sind. Das ist sicher ein psychologisches Phänomen, dass nur bei der Erfüllung ganz bestimmter Präferenzen auftritt, aber es ist doch beachtenswert: weil damit die Präferenzerfüllung als solche untauglich wird als Maß des Erfolgs einer moralischen Handlung.

Urheberrecht geändert

Heute ging das Urheberrecht durch: der Bundestag genehmigte in zweiter und dritter Lesung den "Zweiten Korb", der "das Urheberrecht fit macht für das Informationszeitalter", wie es vollmundig von Verantwortlichen zu hören war. Das ist, leider, großer Quatsch. Das Gegenteil ist passiert. Wissenschaft wird für deren Leser teurer werden und besonders teuer dann, wenn die "Neuen Medien", sprich: Internet, genutzt wird. Wissenschaftler selbst müssen sich beeilen mit ihrem Widerspruch, wenn sie nicht im nächsten Jahr das Recht auf Online-Verbreitung an ihren vor 1995 gedruckten Veröffentlichungen an die Verlage verlieren wollen (hier ein Musterbrief). Aus gut unterrichteten politischen Kreisen -- mein MdB hat mich angerufen aufgrund einer Protestmail! -- war zu hören, dass die Politiker fanden, die Wissenschafts- und Bibliotheksseite habe sich mit wenig überzeugender Lobbyarbeit selbst ins Knie geschossen. Der Vertreter des Urheberrechtsbündnisses (Rainer Kuhlen) mag ihnen auf die Nerven gefallen sein, und dass die Einigung zwischen DBV und Börsenverein von den großen Bibliotheken in D nicht mitgetragen wurde, habe auch nicht gerade einen guten Eindruck gemacht.
Nun, die Politik wird hoffentlich die Folgen des Gesetzes nach einer gewissen Zeit bewerten und sich fragen, ob das wirklich das ist, was sie gewollt hat. Beispielsweise wird als Verbesserung gefeiert, dass jetzt die "elektronische Kopie" zu wissenschaftlichem Zweck erlaubt ist (vorher war sie nicht im Gesetz behandelt). Allerdings ist sie nur dann erlaubt, wenn kein Verlag "offensichtlich" die gewünschte Quelle selbst digital anbietet. Das bedeutet z.B. für den Lieferdienst Subito, welcher Aufsätze auf Wunsch auch als pdf per Email verschickt hat, dass er bei jedem Kopierauftrag prüfen müsste, ob nicht ein Verlag den Aufsatz bereits selbst digital anbietet. Das ist nicht zu leisten, daher wird Subito seine Emaillieferung erst einmal einstellen. Oh ja, im Gesetz ist auch davon die Rede, dass das Verlagsangebot einen "angemessenen" Preis haben müsste. Aber es fehlt eine Festlegung darauf, was denn ein angemessener Preis ist. Also gebe ich mal ein Beispiel: Für einen einzelnen Aufsatz von 26 Seiten zahlt man bei ingenta connect etwas über 35 $. Per Subito-Email-Lieferung hätte ein Wissenschaftler einer deutschen Universität dafür 5 € zahlen müssen.
Nun ja, die Lieferung per Fax und Post bleibt erlaubt. Bei der nächsten Änderung des Urheberrechts wird man dann wohl zur Lieferung per Kurier zurückkehren, danach zu Rauchzeichen...

26 Juni 2007

Tier und Mensch in der Antike

Vegetarismus ist keine neue Idee. Porphyrius berichtet die Diätregeln für ägyptische Philosophenpriester in einer bemerkenswerten Abhandlung namens De abstinentia. Wie Catherine Osborne schreibt:
The pretext of rescuing Firmus Castricius from his meat-eating errors allows Porphyry to present and discuss arguments on both sides of the debate. As a result, De abstinentia is a treasure store of evidence for philosophical thinking on the status fo animals form the Pesocratics to Porphyry's own school, Neoplatonism.

Und Osbornes Buch mit dem schönen Titel Dumb beasts and dead philosophers : humanity and the humane in ancient philosophy and literature (Oxford : Clarendon, 2007) ist ein ebensolches Schatzhaus, und eine Abkürzung in die antike Diskussion.

25 Juni 2007

Gefühle

In den letzten Jahren gibt's mehr und mehr philosophische Publikationen zum Thema: die rationalen Forscher entdecken das 'Andere' der Vernunft. Besonders hervorzuheben ist vielleicht der Band von Simo Knuuttila, Emotions in ancient and medieval philosophy (Oxford : Clarendon, 2004), wiewohl er natürlich keinen Überblick gibt darüber, wie Gefühle jetzt betrachtet werden.
Das tut aber der gerade bei Metzler erschienene Band Philosophie der Gefühle, den Christoph Demmerling und Hilge Landweer verfasst haben. Man findet dort neben einer systematischen Einleitung eine alphabetisch geordnete Sammlung zu 'zentralen' Gefühlen wie Achtung, Angst, Ekel, Freude, Liebe, Zorn, die jeweils umfangreich diskutiert werden. Die Autoren scheinen dabei sowohl mit der eher phänomenologischen Betrachtung als auch mit der analytischen Philosophie hinreichend vertraut, widmen sogar ein paar Seiten der Reflexion der Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Interessant finde ich auch den Rückbezug der "Gefühlstheorie" eines bestimmten Autors an das paradigmatische Gefühl, an dem sie entwickelt wurde; Demmerling und Landweer mühen sich, sowohl komplexen Gefühlen (wie Liebe) als auch einfachen Empfindungen (wie Ärger) gerecht zu werden; "Gefühlsdispositionen" und "Einstellungen" ebenso zu behandeln wie "akute Gefühle". Personen- und Sachregister sowie ausführliche Bibliographie runden das Buch ab. --
Im Kapitel über "Scham und Schuld" hätte ich mir eine Rückbindung an die öffentliche Diskussion des Scham-Begriffs in der Debatte nach Walsers Friedenspreis-Rede gewünscht; hier könnte das Buch ruhig etwas weiter weg sein von der akademischen Analyse.

[Update 22.1.2008] Den Trend bestätigt auch der Sonderband 14 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie: Gefühle - Struktur und Funktion, hg. von Hilge Landweer: und darin natürlich auch einen Aufsatz von Demmerling. Landweer stellt einleitend fest, dass es zwar einen Haufen Publikationen gebe, aber ein "Resümee der bisherigen Debatten" ebenso ausstehe wie eine "Bündelung auf die strittigen Fragen hin". Das soll das Werk nun leisten.

[Update 3.12.08] Von Landweer und Ursula Renz herausgegeben ist soeben bei de Gruyter ein Band "Klassische Emotionstheorien" erschienen.

21 Juni 2007

Moral und Rechnen

Nur die Utilitaristen müssen rechnen, um moralisch zu handeln? Es schadet jedenfalls nicht, wenn man rechnen kann, weil die meisten Theorien der Rationalität ein rechnerisches Element haben.
Nehmen Sie eine Karte von einem kompletten 52er Spiel. Wenns eine Sieben ist, gibt's dafür 100 Euro, wenns Kreuz ist, gibt's 25 Euro, andernfalls kostet das Spiel 10 Euro.

Spielen Sie? Tja: die Entscheidung hängt (rationalerweise) davon ab, ob Sie genug Geld haben, mehrfach zu spielen. Beim einfachen Spiel ist die Chance zu verlieren 69% (36/52). Spielen Sie eine Serie, dann muss man stärker berücksichtigen, wie hoch Gewinn und Verlust jeweils sind: (100 € x 4/52) + (25 € x 13/52) -- (10 € x 36/52) ist das durchschnittliche Spielergebnis: 7,04 € Gewinn pro Spiel. Viel besser als Roulette.
Das Beispiel stammt aus dem Buch The Moral Wager : Evolution and Contract (Dordrecht : Springer, 2007), in dem der Verfasser Malcolm Murray (Kanadier!) für eine Art Evolution moralischer Prinzipien plädiert. Es zeigt (was natürlich auch die Ethik längst weiß), dass Handlungsregeln (die sich als Serie von Einzelnhandlungen auffassen lassen) anders zu beurteilen sind als Einzelhandlungen. Murray meint dann zeigen zu können, dass sich eine bestimmte Handlungsregel als die erfolgreichste durchsetzt: "Don't do unto others without their consent".
Stimmt seine Betrachtung, dann ist das eine statistische Antwort auf die Frage "Warum moralisch sein?", die zugleich erklärt, warum es so schwierig ist, im Einzelfall zu zeigen, das moralisches Handeln sich lohnt.

17 Juni 2007

11 Jahrhunderte Bulgarische Philosophie

Die Bulgarische Akademie der Wissenschaften veröffentlichte 1973 Eleven centuries of Bulgarian philosophical thought (hg. von Michail D. Buchvarov, Sofia) -- ich hätte gar nicht gedacht, dass es da so viel "philosophical thought" gegeben hat, dass man ein Buch damit füllen kann. Die letzten 80 von 180 Seiten gehören dem zwanzigsten Jahrhundert und damit dem Marxismus-Leninismus; erst davor wird es interessant (für den Rückwärtsleser). Natürlich dominiert auch hier in der Darstellung die kommunistische Perspektive; die Positionen werden dann z.B. "burgeois" genannt, als wenn das schon eine hinreichende Erläuterung wäre.
Im Mittelalter sind sie jedenfalls stolz auf die Heiligen Methodius und Cyril: letzterer gilt ja auch als Erfinder der Kyrillischen Schrift, wenn ich recht sehe. "Their general theoretical activity gives proof that Bulgarian philosophical thought at that time was not lagging biehind the development of medieval culture, but had in its own way lost not time in joining it." Das Buch enthält auch eine Bibliographie der Hauptwerke, aber während es selbst in Englisch ist, sind diese es natürlich nicht, wie auch die meisten Quellenangaben in Fußnoten, was die Lektüre ein wenig erschwert.
Eine Ausnahme gibt es. Es gab in der Bulgarischen Philosophie offenbar eine Periode des "Rehmkeismus": "The sorce of Bulgarian Rehmkeism is the conceptions of the German philosopher Johannes Rehmke (1848-1930), professor of philosophy at Greifswald." Schon mal gehört?

16 Juni 2007

"Tugend ist ihr eigner Lohn"?

Das hört sich an wie eine Eltern-Maxime: eine, die vertreten wird von Leuten, die einen dazu bringen wollen, dies und jenes zu tun. Ein leeres Versprechen vermutlich; wobei ohnehin die Frage offen bleibt, ob man den Lohn der Tugend überhaupt will. Oder wie Harry Graham dichtet:

What makes Existence really nice
Is Virtue -- with a dash of Vice.
Nun habe ich aber mit Dickens' Roman Martin Chuzzlewit ein Modell entdeckt, das mich zumindest von der Möglichkeit überzeugt, dass der Satz ein Körnchen Wahrheit enthalten könnte. Da gibt es nämlich eine Figur namens Mark Tapeley, die nichts anderes im Sinn hat, als unter den widrigsten Umständen "jolly": bester Laune zu bleiben. Das ist natürlich nur eine Herausforderung, wenn man auch in widrigsten Umständen sich befindet, also begibt er sich in solche. Dickens schildert, wie Tapeley auf der Überfahrt von England nach New York durch seine fröhliche Hilfsbereitschaft (selbst bei Seekrankheit) das ganze Unterdeck bei Laune hält. Infolgedessen ist er bei allen Mitreisenden so beliebt, dass er ins Grübeln kommt, ob diese Umstände es nicht jedem leicht machen würden, "jolly" zu sein. Dass es seine eigene Güte ist, die erst das Wohlwollen der Anderen zum Vorschein brachte, kann er nicht sehen: wohl aber natürlich der Leser.

13 Juni 2007

Bewusstsein, wie es früher war

Auf eine "Geschichte des Bewusstseins" habe ich hier schon mal hingewiesen. Gerade begegnet mir ein neues Buch namens The seat of consciousness in ancient literature (Jefferson, NC : Mc Farland, 2007) von einem Richard E. Lind, der laut Klappentext sein Berufsleben als klinischer Psychologe verbracht hat und den nun offenbar der Ehrgeiz packte, das, was er zu heilen suchte, besser zu verstehen. Lind untersucht in diesem Buch den Begriff von Bewusstsein, der sich in Texten und Zeugnissen findet, die vor 500 v. Chr. entstanden: als der Sitz des Bewusstseins noch im Herzen war, nicht im Kopf. Es gab auch noch kein Leib-Seele-Problem: glückliche Zeiten :-)

12 Juni 2007

Schlechte Aufsätze

Die Topformulierungen, die für mich einen schlechten Aufsatz anzeigen, unabhängig von seinem Thema, sind solche wie:
(1) "Das [Zitat] kann man so-und-so lesen". Bedeutet ja doch nur, dass man es auch ganz anders lesen kann. Ich will aber wissen, warum ich etwas so-und-so lesen soll.

(2) "Studien haben gezeigt ...[Fußnote]": sieht man sich dann die Fußnote an, findet man dort eine einzige Studie. Für mich klingt so ein Satz wie die Berufung auf den Common sense der Forschung. Den kann man aber nicht belegen mit einer einzigen Schrift.

(3) "xy hat gezeigt ...", wenn xy das gar nicht gezeigt, sondern nur vertreten (und vielleicht bloß behauptet) hat.

(4) " wie Kant in der Kritik der Urteilskraft (Stuttgart 1971, S. 63) sagt". Statt Kant könnte hier z.B. auch Plato stehen und ein Nachweis wie (Reinbek 1962, S. 15): Autoren, die unbedingt nach kanonischen Ausgaben zitiert werden sollten: und nicht nach dem Reclam-Heft-Seitenzahlen, die man gerade zur Hand hat.

Wie ich darauf komme? Gerade eine Rezension geschrieben für einen Sammelband ...